Wirkstoff - Toxikologie
Tubocurarin

Anwendungssicherheit

Neuromuskulär blockierende Wirkstoffe sind besonders risikoreiche Arzneimittel, wenn sie nicht fachgerecht angewendet werden. Dies aus mindesten zwei Gründen: erstens bleiben Bewusstsein und Schmerzempfindung erhalten, zweitens wird die Atemmuskulatur durch die üblichen Dosen gelähmt, was eine adäquate künstliche Beatmung nötig macht (Starke 2005b).
 

Akute Toxizität

Vergiftungen mit nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien beruhen nahezu immer auf Überdosierungen. Es kommt dabei zu einem längeren Atemstillstand, einer Kreislaufdepression sowie einer Histaminausschüttung (Erhardt 2004l).
 

LD50

Maus:i.v. 0,14 mg/kg (Anttila 1978b)
oral 33,2 mg/kg (O'Neil 2001a)
  
Ratte:oral 27,8 mg/kg (O'Neil 2001a)
 

Reproduktion

Die Plazentarschranke wird von nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien nur in therapeutisch nicht relevanten Mengen überwunden (Erhardt 2004l; Pittinger 1953a), da die Wirkstoffe grosse hydrophile, polare Moleküle sind (Martinez 2007a). Die D-Tubocurarinkonzentrationen, welche benötigt wurden, um die Organogenese von Rattenembryonen zu beeinträchtigten, waren in einer Studie 30-mal höher als die maternalen Serumkonzentrationen, welche nach einer therapeutischen Dosierung erreicht wurden (Fujinaga 1992a).
 

Fetotoxizität

10 - 100 μg D-Tubocurarinchlorid i.v. bewirkt bei Meerschweinchen- und Kaninchenföten eine vollständige Paralyse innerhalb von 2 - 3 min. Isolierte Nerven von Rattenföten reagieren gleich sensitiv wie jene von adulten Tieren (Buller 1949a).
 
D-Tubocurarin, i.v. verabreicht bei Föten von Schafen, verursacht eine Abnahme der Herzfrequenz und des arteriellen Blutdrucks (Chestnut 1989b).
 

Neugeborene

Die Verabreichung von neuromuskulären Blockern wie D-Tubocurarin, Pancuronium und Succinylcholin an neugeborene Katzen und Frettchen beeinträchtigt die Stärke einer mittels Elektroden ausgelösten Muskelzuckung nicht (Evans 1973b). Hingegen zeigen neuromuskuläre Endplatten von neugeborenen Ratten eine erhöhte Sensitivität gegenüber einer durch D-Tubocurarin induzierten neuromuskulären Blockade (Fortier 2001a).
 
D-Tubocurarin erhöht bei neonatalen Kaninchen den vaskulären renalen Widerstand, jedoch ohne die glomeruläre Filtrationsrate oder die renale Durchblutung zu beeinflussen (Gouyon 1988a).
 

Therapie bei Ueberdosierung

Eine für die Praxis sehr wichtige Eigenschaft der nicht-depolarisierenden Wirkstoffe ist die Möglichkeit der Aufhebung der neuromuskulären Blockade (Decurarisierung) durch Cholinesteraseinhibitoren wie Neostigmin (Erhardt 2004l; Starke 2005b; Ramzan 1981a). Diese indirekten Parasympathomimetika hemmen den Abbau von freigesetztem Acetylcholin, welches dadurch vermehrt mit den kompetitiven Antagonisten konkurriert (Martinez 2002a; Starke 2005b). Die Behandlung mit einem Cholinesterasehemmer (Neostigmin) beendet jedoch nur die Muskelrelaxation, nicht aber den Blutdruckabfall und den eventuellen Bronchospasmus (Erhardt 2004l).
 
Die Cholinesteraseinhibitoren haben keinen Einfluss auf die Elimination der nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien, sie beschleunigen lediglich die Erholung von der neuromuskulären Blockade. Anticholinesterasen wirken besser, wenn bereits spontane Muskelbewegungen auftreten (Erhardt 2004l); d.h. drei bis vier Zuckungen der "Viererserie" sollten auslösbar sein (Martinez 2001a). Weitere Informationen zum "neuromuskulären Monitoring" siehe unter Pharmakologie.
 
Klinisch verwendet werden die Cholinesterasehemmer Neostigmin, Pyridostigmin und Edrophonium. Diese Cholinesterasehemmer sind quarternäre Ammoniumverbindungen und damit nur schwach lipophil. Dadurch fehlen zerebrale Effekte, im Gegensatz zum Cholinesterasehemmer Physostigmin, der als tertiäres Amin in der Lage ist, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden (Taylor 2001e; Erhardt 2004l).
 
Es kann zu einem Versagen der Anticholinesterasen kommen, wenn:
-nicht-depolarisierende Muskelrelaxantien überdosiert wurden
-noch eine zu hohe Konzentration von nicht-depolarisierender Muskelrelaxantien im Gewebe vorhanden ist
-die Metabolisierung oder Ausscheidung der nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien durch beispielsweise eine Leber- oder eine Niereninsuffizienz verzögert wird
-eine Hypothermie besteht (Paddleford 1992c; Hall 2001m)
-der Säure-Basen-Haushalt verändert ist
-die Plasmaproteinkonzentration vermindert ist (Paddleford 1992c)
 
Anticholinesterasen wirken indirekt parasympathomimetisch und können selber folgende Symptome verursachen:
-Bradykardie
-erhöhte Salivation
-verstärkte gastrointestinale Motilität
-Miosis
-periphere Vasodilatation (Erhardt 2004l)
 

Neostigmin

Neostigmin antagonisiert die blockierende Wirkung kompetitiver Blocker nur an den Skelettmuskeln. Atropin oder Glykopyrrolat werden verabreicht, um die Wirkung an den muskarinergen Rezeptoren zu mindern (Taylor 2001e).
 
Die Dosierung von Neostigmin beträgt bei Kleintieren 0,04 mg/kg i.v.; die antagonisierende Wirkung sollte nach 3 - 4 min eintreten, ansonsten kann die gleiche Dosis nachinjiziert werden. Dabei sollte aber eine Gesamtdosis von 0,12 mg/kg nicht überschritten werden. Um vagale (muskarinerge) Nebenwirkungen von Neostigmin zu vermeiden, sollte immer 1 - 2 min vor der Neostigminapplikation Atropin intravenös in einer Dosierung von 0,02 mg/kg verabreicht werden. Die Verabreichung in einer Mischspritze ist auch möglich (Paddleford 1992c; Erhardt 2004l).
 
Eine respiratorische Azidose und eine metabolische Alkalose können den Antagonismus von Neostigmin gegenüber D-Tubocurarin vermindern. Bei Katzen wurden 20 μg/kg bzw. 18 μg/kg Neostigmin benötigt, um die Wirkung von D-Tubocurarin um 50% zu antagonisieren. Eine respiratorische Azidose und eine metabolische Alkalose veränderten die Wirkung dieser Neostigmindosis nicht. Höhere Neostigmindosen (75 μg/kg) konnten jedoch eine neuromuskuläre Blockade nicht vollständig antagonisieren, bis die respiratorische Azidose bzw. metabolische Alkalose korrigiert waren (Miller 1975a).
 

Edrophonium

Edrophonium kann, mit Atropin kombiniert, initial vor einer Neostigminverabreichung angewendet werden, und so ein nicht-depolarisierendes Muskelrelaxans rasch antagonisieren (Paddleford 1992c).
 

Doxapram

Doxapram kann als ZNS- und Atemstimulans diagnostisch eingesetzt werden, um im Körper verbleibende Mengen von nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien nachzuweisen. Kommt es nach einer Verabreichung von Doxapram nicht zu Atembewegungen, so sind Restmengen von Muskelrelaxantien vorhanden. Sind nach der Verabreichung Atembewegungen sichtbar, war eventuell die Anästhesie zu tief (Paddleford 1992c).
 

Antihistaminika

Antihistaminika wirken der durch D-Tubocurarin induzierten Histaminfreisetzung entgegen (Taylor 2001e) und können so die kardiovaskulären Nebenwirkungen vermindern (Moss 1982a).