Wirkstoff - Pharmakologie
Pilocarpin

Eigenschaften

Pilocarpin gehört zur Gruppe der direkt wirkenden Parasympathomimetika (Löscher 2003b) und wird in der Veterinärmedizin hauptsächlich als Miotikum zur Glaukombehandlung eingesetzt (Plumb 2002a). Der Wirkstoff besitzt eine selektive Wirkung auf die Muskarinrezeptoren (Brown 2001a; Löscher 2002a) und führt zu einer verstärkten Sekretion von exokrinen Drüsen, insbesondere der Schweiss- und Speicheldrüsen sowie von Drüsen des Gastrointestinaltraktes und des Pankreas. Klinisch wichtig ist die starke konstriktorische Wirkung auf die Pupille. Zudem bewirkt Pilocarpin eine Kontraktion der glatten Muskulatur des Gastrointestinaltraktes, was zu einem erhöhten Muskeltonus und einer verstärkten Peristaltik führt (Adams 2001c; Starke 2005b). Nach systemischer Anwendung sind die Effekte auf das kardiovaskuläre System sehr ausgeprägt (Löscher 2002a; Löscher 2003b). Pilocarpin kann die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und somit zentralnervöse Erregungszustände induzieren. Bei einer hohen Dosis kann es zur Lähmung des Atemzentrums kommen (Löscher 2002a).
 

Wirkungsort

Primär ist Pilocarpin an muskarinergen Rezeptoren aktiv und hat nur eine minimale nikotinerge Wirkung (Adams 2001c).
 

Wirkungsmechanismus

Pilocarpin aktiviert direkt die muskarinergen Rezeptoren von Zellen, die durch postganglionäre cholinerge Nerven innerviert werden. Die Cholinesterase wird nicht gehemmt. Die Wirkung ist unabhängig von endogenem Acetylcholin (Adams 2001c).
 

Auge

Durch die Aktivierung der Muskarinrezeptoren erfolgt eine Kontraktion des M. ciliaris und M. sphincter pupillae. Die Folge der Kontraktion des M. sphincter pupillae ist die Verkleinerung der Pupille (Miosis). Die Folgen der Kontraktion des M. ciliaris sind die Erschlaffung der Zonulafasern, Rundung der Linse, Akkomodation und Abflachung der vorderen Augenkammer sowie durch Zug am Skleralsporn eine Erweiterung der Maschen des Trabekelwerks im Kammerwinkel und des Schlemm'schen Kanals. Dies führt zu einem erleichterten Abfluss des Kammerwassers (Starke 2005b; Löscher 2003b). Der intraokkuläre Druck (IOD) erhöht sich für einen kurzen Moment und senkt sich anschliessend für eine längere Zeit (Adams 2001c). Im Vergleich zur Standardlösung von Pilocarpin mit einem pH-Wert von 5, führt eine gepufferte Lösung mit pH-Wert 7 zu einem geringeren transienten Anstieg des IOD und einer viel geringeren Reizung der Augen. Es wird vermutet, dass eine kurze Freisetzung von Prostaglandin und anderen Entzündungsmediatoren durch die reizende Wirkung des tieferen pH-Wertes ausgelöst wird. Beide Lösungen führen zu einem ähnlichen Wirkungseintritt und einer ähnlichen Wirkungsdauer bezüglich Miosis und Senkung des IOD (Gelatt 1997a). Pilocarpin erhöht dosisabhängig die Permeabilität der Blut-Kammerwasser-Schranke für Plasmaproteine (Mori 1992a).
 

Chronisches Offenwinkelglaukom

Die therapeutische Hauptwirkung richtet sich auf den M. ciliaris. Die Muskelkontraktion stellt das Trabekelwerk und den Schlemm'schen Kanal weit und fördert den Kammerwasserabfluss (Starke 2005b).
 

Akutes Winkelblockglaukom

Die therapeutische Hauptwirkung richtet sich auf den M. sphincter pupillae. Die Pupille wird verengt, das Volumen an Irisgewebe im Kammerwinkel nimmt ab und die Iriswurzel wird vom Trabekelwerk weggezogen. Bei einem intraokkulären Druck von über 50 mmHg zeigt Pilocarpin oft keine Wirkung mehr, da der Sphinkter durch Ischämie gelähmt ist. Die Therapie mit Pilocarpin darf in diesem Fall nicht weitergeführt werden (Starke 2005b).
 

Hund

Lokale Verabreichung von einem Tropfen (65 µl) Pilocarpin bei Hunden mit einem normalen IOD:
 
-Pilocarpin 1% führt zu einer Reduktion des IOD um 25%,
-Pilocarpin 2% führt zu einer Reduktion des IOD um 34%
-Pilocarpin 4% führt zu einer Reduktion des IOD um 25%
 
Lokale Verabreichung von einem Tropfen (65 µl) Pilocarpin bei Hunden mit einem Offenwinkelglaukom:
 
-Pilocarpin 1% führt zu einer Reduktion des IOD um 30%
-Pilocarpin 2% führt zu einer Reduktion des IOD um 44%
-Pilocarpin 4% führt zu einer Reduktion des IOD um 31%
 
Die Abnahme des IOD ist grösser bei Hunden mit einem Offenwinkelglaukom als bei gesunden Hunden (Gwin 1977a). Die 2%ige Pilocarpinlösung bewirkt eine maximale Verminderung des IOD und eine maximale Miosis, verglichen mit der 1%igen und 4%igen Lösung (Krohne 1994a; Gwin 1977a).
 
Die topische Verabreichung von Pilocarpin 2% dreimal täglich führt beim Hund nebst einem verminderten IOD auch zu einer Miosis und einer erhöhten Permeabilität der Blut-Kammerwasser-Schranke (BKS). Dies hat eine vorübergehende Erhöhung des Kammerwasserflusses zur Folge. Die Miosis und der erhöhte Kammerwasserfluss können durch Proparacain (Anästhetikum) oder NSAID's (nichtsteroidale antiinflammatorische Arzneimittel) vermindert werden. Deshalb wird vermutet, dass durch eine gegenläufige Stimulation des Trigeminusnerves eine Neuropeptidfreisetzung und sekundär ein Prostaglandinanstieg im Kammerwasser stattfindet und zu einer erhöhten Permeabilität der BKS führt. Die durch Pilocarpin induzierte Miosis entsteht wahrscheinlich durch eine Kombination von cholinerger Stimulation und reizender Wirkung durch den Prostaglandinanstieg. Die hemmende Wirkung des Pilocarpins auf den IOD wird weder durch die Miosis noch durch die erhöhte Permeabilität der BKS beeinträchtig (Krohne 1998a; Krohne 1994a).
 
Gemäss Whitley et al. kann beim Hund nach topischer Anwendung an einem Auge kein kontralateraler Effekt bezüglich vermindertem IOD oder Miosis festgestellt werden. Eine systemische Absorption nach lokaler Anwendung scheint deshalb eher unwahrscheinlich (Whitley 1980a; Regnier 1999a). Eine frühere Studie von Gwin et al. konnte jedoch nach topischer Verabreichung von Pilocarpin 2% einen signifikant tieferen IOD am unbehandelten kontralateralen Auge bei Hunden mit Offenwinkelglaukom sowie auch bei gesunden Hunden feststellen (Gwin 1977a). Die kombinierte Verabreichung von Pilocarpin (1%ige - 6%ige Lösung) und Adrenalin 1% ins Auge führt dosisunabhängig zu einer Miosis und einem verminderten IOD sowohl beim gesunden Hund wie auch bei Hunden mit Offenwinkelglaukom. Ein kontralateraler Effekt am unbehandelten Auge bezüglich Miosis und vermindertem IOD konnte auch in dieser Studie nicht nachgewiesen werden (Gelatt 1983a).
 

Katze

Die lokale Verabreichung von einem Tropfen (65 µl) Pilocarpin 2% führt zu folgenden Veränderungen:
 
-Der IOD vermindert sich im behandelten sowie im unbehandelten Auge. Dieser kontralaterale Effekt erfolgt vermutlich eher aufgrund einer systemischen Aufnahme und eines Cross-Over-Effekts als auf einer zentralen Wirkung.
-Die mittlere Reduktion des IOD beträgt 15,2%.
-4 Stunden nach topischer Anwendung reduziert sich der IOD maximal um 30,4%.
-Der Pupillendurchmesser des behandelten Auges vermindert sich um 28,5% innerhalb von 30 Minuten. Eine Miosis erfolgt im behandelten sowie im unbehandelten Auge (Wilkie 1991c).
 

Pferd

In einer Studie von van der Woerdt et al. führte die lokale Verabreichung von Pilocarpin 2% in einer Einzeldosis oder zweimal täglich über 5 Tage beim gesunden Pferd zu keiner signifikanten Veränderung des IOD. Während der Behandlungsdauer von 5 Tagen konnte eine Tendenz in Richtung eines erhöhten IOD-Wertes und eine signifikante Abnahme der vertikalen Pupillengrösse festgestellt werden (van der Woerdt 1998a).
 

Exokrine Drüsen

Pilocarpin stimuliert die Sekretion von Drüsen, die parasympathisch oder sympathisch cholinerg innerviert werden. Dazu gehören die Tränen- und Speicheldrüsen, Drüsen des Gastrointestinaltraktes, Tracheobronchialdrüsen und Schweissdrüsen (Brown 2001a).
 

Schweissdrüsen

Beim Menschen verursacht Pilocarpin eine starke Schweisssekretion. Nach subkutaner Anwendung von 10 - 15 mg/Mensch können bis zu 3 Liter Schweiss ausgeschieden werden (Brown 2001a).
 

Speicheldrüsen

Die Speichelsekretion wird stark angeregt. Oral verabreichtes Pilocarpin scheint zu einer beständigeren Speichelsekretion zu führen (Brown 2001a).
 

Tränendrüsen

Die Stimulation der Tränendrüsen bei den Kleintieren wird hauptsächlich parasympathomimetisch gesteuert (Plumb 2002a). Pilocarpin führt zu einer verstärkten Sekretion der Tränendrüsen und wurde deshalb früher bei Hunden mit Keratokonjunktivitis Sicca (KKS) eingesetzt (Moore 2001b). Der Wirkstoff wurde entweder lokal ins Auge oder peroral (Augentropfen ins Futter) verabreicht. Es traten jedoch toxische Nebenwirkungen wie z.B. verstärktes Speicheln, Erbrechen und Durchfall auf (Plumb 2002a). Heutzutage wird bevorzugt Cyclosporin A zur Behandlung von KKS eingesetzt (Plumb 2002a; Moore 2001b).
 
Smith et al. zeigten, dass die lokale Verabreichung von Pilocarpin bei gesunden Hunden keine vermehrte Tränenproduktion zur Folge hat und Blepharospasmus, konjunktivale Hyperämie und Miosis auftreten. Die orale Verabreichung führt jedoch zu einer vermehrten Tränenproduktion. Die Autoren empfehlen deshalb zur Behandlung von KKS die topische Anwendung von künstlichem Tränenersatz, Cyclosporin A und falls nötig, eine systemische Verabreichung von Pilocarpin (Smith 1994e). Dies wird jedoch kontrovers diskutiert. Eine frühere Studie von Rubin et al. zeigte, dass die Verabreichung von mindestens 3,75 mg Pilocarpin oral, subkutan oder konjunktival zu einer erhöhten Tränenproduktion bei gesunden Kleintieren sowie auch bei Kleintieren mit KKS führt. Die Autoren raten von einer längeren topischen Anwendung ab, da Pilocarpin zu einer Miosis und zu Irritationen der Kornea und der Konjunktiven führt (Rubin 1967a). Slatter et al. empfehlen die topische Verabreichung von Pilocarpin bei Hunden mit KKS in Kombination mit anderen Medikamenten (Slatter 1995a; Rubin 1967a; Slatter 2001a). Gemäss den Autoren ist die topische Anwendung von Pilocarpin wirksamer als die orale Anwendung und weist weniger systemische Nebenwirkungen auf (Slatter 2001a). Pilocarpin führt bei Tieren mit extrem tiefen Werten im Schirmer Tränentest oft zu ungenügender Tränenstimulation, da nicht mehr genügend funktionelles Tränengewebe vorhanden ist (Ward 1999a).
 

Kardiovaskuläres System

Direkt wirkende Parasympathomimetika wie Pilocarpin führen zu einem dosisabhängigen Blutdruckabfall, zu einer Bradykardie (mit der Gefahr von ektopisch ausgelösten Extrasystolen) und zur Senkung der Kontraktionskraft des Herzens. Pilocarpin besitzt eine starke kardiale Wirkung und wird aus diesem Grund normalerweise nicht systemisch angewendet (Löscher 2002a). Die kardiovaskuläre Wirkung von Pilocarpin kann jedoch von der Norm abweichen. Wie Carbachol bewirkt auch Pilocarpin nur einen kurzen Blutdruckabfall. Wenn jedoch vor der Applikation von Pilocarpin eine genügend hohe Dosis eines Nikotinrezeptorantagonisten verabreicht wird, verursacht Pilocarpin eine starke Blutdruckerhöhung. Beide Wirkungen, die blutdrucksenkende und blutdruckerhöhende Wirkung, können durch Atropin verhindert werden. Die blutdruckerhöhende Wirkung kann auch durch einen alpha-adrenergen Rezeptorantagonisten aufgehoben werden. Diese Effekte von Pilocarpin sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Es wird vermutet, dass eine Stimulation der Ganglien und des Nebennierenmarkes dafür verantwortlich sind (Brown 2001a).
 

Gastrointestinaltrakt

Pilocarpin führt zu einer Stimulation des Gastrointestinaltraktes. Der Tonus und die Motilität werden erhöht. Hohe Dosen verursachen Spasmen und Tenesmus (Brown 2001a).
 

Harntrakt

Der Detrusormuskel der Harnblase wird kontrahiert und führt zu erhöhtem Harnabsatz, verminderter Blasenkapazität und einer erhöhten Harnröhrenperistaltik (Brown 2001a).
 

Respirationstrakt

Zusätzlich zur vermehrten tracheobronchialen Sekretion wird die glatte Muskulatur der Bronchien kontrahiert (Brown 2001a).
 

ZNS

Die intravenöse Verabreichung von relativ geringen Mengen von Pilocarpin verursacht bei Katzen eine kortikale Erregung (Brown 2001a).