2. Quellen
Avermectine und Milbemycine sind für die Parasitenbekämpfung bei Rind, Schaf, Ziege, Pferd und Schwein zugelassen (sowie
Selamectin beim Hund). Bei diesen Species (ausser bei Neugeborenen, gewissen Hunderassen und der Rinderrasse Murray Gray) weisen die Avermectine und Milbemycine eine sehr gute Verträglichkeit für den Wirtsorganismus auf, so dass es erst nach mehr als 10facher Überdosierung zu toxischen Effekten kommt. Als Tierarzneimittel befinden sich aus der Gruppe der Avermectine folgende Wirkstoffe auf dem Markt:
Abamectin,
Doramectin,
Eprinomectin,
Ivermectin und
Selamectin. Aus der Gruppe der Milbemycine kommen in der Veterinärmedizin
Milbemycinoxim,
Milbemycin D und
Moxidectin zur Anwendung.
Ivermectin wird auch in der Humanmedizin eingesetzt, zum Beispiel zur Therapie der Onchocercose (Flussblindheit).
3. Kinetik
Die meisten Avermectin- und Milbemycinpräparate werden oral oder subkutan appliziert. Die orale Bioverfügbarkeit von
Ivermectin beträgt bei Monogastriern 95%, bei Wiederkäuern nur etwa 30%. Die enterale Aufnahme erfolgt rascher als die Resorption aus subkutanen Depots: bei oraler Applikation treten die maximalen Serumkonzentrationen nach 3-8 Stunden (Monogastrier) oder nach 8-24 Stunden (Wiederkäuer) auf. Die subkutane Verabreichung führt erst nach mehreren Tagen zur maximalen Serumkonzentration. Avermectine und Milbemycine reichern sich in der Leber und aufgrund der Lipophilität im Fettgewebe an. Das Verteilungsvolumen von
Ivermectin beträgt 2-5 L/kg Körpergewicht. Die Ausscheidung des kaum metabolisierten Wirkstoffes erfolgt sehr langsam (Halbwertszeiten von 2-7 Tagen) und vorwiegend über die Galle mit dem Kot. Bei Überdosierungen von
Ivermectin kann die Eliminationshalbwertszeit über 2 Wochen betragen. Ein Teil des Wirkstoffes (> 5%) gelangt in die Milch, Avermectine dürfen deshalb nicht an laktierenden Kühen verabreicht werden.
Bei einige Hunderassen (zum Beispiel Collies, Longhaired Whippets, Sheepdogs, Australian Shepherds, McNabs, Silken Windhounds, Bobtails) sowie bei Rindern der Rasse "Murray Grey" reichern sich die Avermectine im ZNS an, weil ein aktiver Rücktransportmechanismus nicht funktioniert. Wegen ihrer Lipophilität können Avermectine durch die Membranen jeder intakten Blut-Hirn-Schranke diffundieren. Experimente mit transgenen Mäusen zeigen aber, dass eine P-Glykoproteinpumpe normalerweise dafür sorgt, dass Avermectine aus dem ZNS rückgeführt werden, so dass dort nie ein nennenswerter Wirkspiegel entsteht. Die empfindlichen Collies weisen eine Mutation im mdr1-Gen auf, das für die P-Glykoproteinpumpe kodiert. Schildkröten reagieren ebenfalls sehr empfindlich auf Avermectine.
4. Toxisches Prinzip
Es werden zwei Effekte beschrieben. 1) Die präsynaptische Freisetzung von γ-Aminobuttersäure (GABA) wird erhöht und gleichzeitig die postsynaptische Rezeptoraffinität für GABA gesteigert. 2) Die Makrolide binden an GABA-gesteuerte Chloridkanäle, was diese vermehrt öffnet und den zelleinwärtsgerichtete Chloridionenstrom verstärkt. Durch Hyperpolarisation der Membranen kommt es zur Lähmung zentralnervöser Funktionen.
Als Folge der Avermectin- oder Milbemycintherapie werden Mikrofilarien abgetötet, was zu einer Gewebsirritationen oder allergischen Reaktionen führen kann.
5. Toxizität bei Labortieren
Akute orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):
| Maus | Ratte | Kaninchen | Huhn |
Abamectin | 13.5 | 10 | | |
Ivermectin | 25-29.5 | 50 | | |
6. Umwelttoxikologie
Es wird befürchtet, dass die pharmakologisch aktiven Kotrückstände der Avermectine den Dungabbau durch Kleinlebewesen verhindern, was zur Beeinträchtigung der Qualität von Weideflächen führen könnte.
II. Spezielle Toxikologie - Pferd
1. Toxizität
Die empfohlene Dosis von Ivermectin liegt für Pferde bei 0.2 mg/kg Körpergewicht. Als Nebenwirkungen werden beim Pferd schon im therapeutischen Dosisbereich schmerzhafte Reizungen und Schwellungen an Injektionsstellen beobachtet. Diese Reaktionen beruhen möglicherweise auf Lösungsmittel. Sofern der orale Applikationsweg für Ivermectin gewählt wird, kommt es erst nach zehnfacher Überdosierung zu ernsthaften Vergiftungssymptomen. Fohlen unter 4 Monate reagieren jedoch empfindlicher als ältere Pferde, wahrscheinlich weil die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger ist.
2. Latenz
Die ersten Vergiftungssymptome treten einige Stunden bis spätestens 12 Stunden nach Applikation auf.
3. Symptome
3.1 | Allgemeinzustand, Verhalten |
| Somnolenz, Depression, Koma, Verhaltensstörungen wie Anlaufen gegen Hindernisse, Kopfpressen, Festliegen |
|
3.2 | Nervensystem |
| Ataxie, Tremor, Parese der Gliedmassen |
|
3.3 | Oberer Gastrointestinaltrakt |
| Keine Symptome |
|
3.4 | Unterer Gastrointestinaltrakt |
| Keine Symptome |
|
3.5 | Respirationstrakt |
| Bradypnoe |
|
3.6 | Herz, Kreislauf |
| Keine Symptome |
|
3.7 | Bewegungsapparat |
| Keine Symptome |
|
3.8 | Augen, Augenlider |
| Mydriasis, vorübergehende Blindheit |
|
3.9 | Harntrakt |
| Keine Symptome |
|
3.10 | Fell, Haut, Schleimhäute |
| Keine Symptome |
|
3.11 | Blut, Blutbildung |
| Keine Symptome |
|
3.12 | Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation |
| Keine Symptome |
4. Sektionsbefunde
Es sind keine spezifische pathologische Befunde zu beobachten.
5. Weiterführende Diagnostik
Möglich ist der Wirkstoffnachweis im Serum mittels Immunoassay oder chromatographischen Methoden.
6. Differentialdiagnosen
Bakterielle Menigitis oder Encephalitis, Fehlanpassungssyndrom der Neugeborenen, Trauma.
7. Therapie
7.1 | Dekontamination |
| Aktivkohle und Glaubersalz oder Paraffinöl per Nasenschlundsonde |
|
7.2 | Kreislauf |
| Flüssigkeit- und Elektrolytersatz |
|
7.3 | Forcierte Ausscheidung |
| 20%ige Lipidinfusion: Bolus von 1.5 ml/kg Körpergewicht i.v., dann 0.25 ml/kg Körpergewicht/Minute während 30 Minuten. Die Therapie kann bei ungenügendem Effekt nach ca. 15 Stunden wiederholt werden. |
|
7.4 | Schutz von Verletzungen |
| Vorbeugen von Verletzungen bei vorübergehend blinden Tieren. |
|
7.5 | Aufrechterhaltung vitaler Körperfunktionen |
| Versorgung von bewusstlosen Tieren (Trachealtubus, Beatmung, künstliche Ernährung, Verhinderung von Dekubitusschäden, Kontrolle der Körpertemperatur). |
8. Fallbeispiele
8.1 | Einem 13 Monate alten Shettland-Fohlen (26 kg) wurde versehentlich der Inhalt eines Oraldosers mit 7.49 g der 1.87%igen Ivermectin-Paste verabreicht. Dem Fohlen wurde also 5.4 mg Ivermectin/kg Körpergewicht eingegeben. |
| Symptome 1.5 Tage später: zentrale Blindheit, Stupor, Seitenlage, Hypothermie. |
| Therapie: 0.04 mg/kg Körpergewicht Sarmazenil im Abstand von 2-3 Stunden während 36 Stunden brachte nur eine geringradige Verbesserung. Deshalb Verabreichung einer 20 %igen Lipidinfusion (Bolus von 1.5 ml/kg Körpergewicht i.v., dann 0.25 ml/kg Körpergewicht/Minute während 30 Minuten), 2 mal im Abstand von 20 Stunden. |
| Verlauf: Nach der ersten Lipidinfusion nur geringgradige Verbesserung, 2 Stunden nach der zweiten Infusion konnte das Fohlen wieder aufstehen und 7 Tage danach wieder sehen (Bruenisholz et al., 2012). |
|
8.2 | Einem 16 Stunden alten Fohlen wurde fälschlicherweise vom Besitzer 6.1 g Ivermectin (2.1 mg/kg Körpergewicht) oral verabreicht. Nach einigen Stunden begann das Fohlen ataktisch zu werden, gegen Gegenstände zu laufen und den Kopf gegen die Wand zu pressen. Es entwickelte sich eine Parese aller Gliedmassen. Therapeutisch wurden Infusionen mit Ringer und Glukose durchgeführt. Ausserdem wurden 4 Liter Plasma transfundiert. Ferner wurde Ticarcillin, Flunixin und Cimetidin verabreicht. Nach 48 Stunden war eine Besserung eingetreten und nach 3 Tagen war das Fohlen symptomfrei (Godber et al., 1995). |
|
8.3 | Einem 3 Monate alten, männlichen, 61 kg schweren Zebrafohlen wurde vom Besitzer versehentlich der Inhalt eines Oraldosers mit 6.8 g der 1.87%igen Ivermectin-Paste verabreicht. Dem Fohlen wurde also 2.08 mg Ivermectin/kg Körpergewicht eingegeben. Das entspricht einer zehnfachen Überdosierung. Einige Stunden nach der Verabreichung zeigte das Fohlen Depression, Ataxie und Blindheit. Es wurden 40 mg Dexamethason, 50 mg Flunixin, 250 ml 50%ige Glukoselösung und 0.5 g/kg DMSO intravenös gegeben. Das Fohlen erholte sich langsam und erlangte nach 5 Tagen seine Sehkraft wieder (Hautekeete et al., 1998). |
|
8.4 | Ein 13 tägiges Araber-Fohlen (weiblich, 40 kg Körpergewicht) wurde zur Entwurmung mit 2mg/kg Körpergewicht Moxidectin p.o. behandelt. Moxidectin sollte erst ab dem 4. Lebensmonat angewendet und mit 0.5 mg/kg Körpergewicht dosiert werden. 2 Stunden nach der Behandlung lag das Fohlen im Koma. Therapie: Aufwärmen; enterale Milchfütterung über die Nasenschlundsonde; O2-Insufflation; Infusionen mit NaCl-Glukose 5%, Isosteril und Ringerlactat; 750 ml Plasma und 0.04 mg/kg Körpergewicht Sarmazenil im Abstand von 2-3 Stunden. Das Fohlen zeigte nach 24 Stunden den ersten Aufstehversuch (Institut für Veterinärpharmakologie und -toxikologie). |
9. Literatur
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Bruenisholz H, Kupper J, Muentener CR, Dally A, Kraemer T, Naegeli H & Schwarzwald CC (2012) Treatment of ivermectin overdose in a miniature Shetland Pony using intravenous administration of a lipid emulsion. J Vet Intern Med 26, 407-411
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Godber LM, Derksen FJ, Williams JF & Mahmoud B (1995) Ivermectin toxicosis in a neonatal foal. Aust Vet J 72 , 191-192
Hautekeete LA, Safdar AK & Hales WS (1998) Ivermectin toxicosis in a zebra. Vet Human Toxicol 40, 29-31
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