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Avermectine / Milbemycine

I. Allgemeine Toxikologie

1. Chemisch-physikalische Eigenschaften

Avermectine (Abamectin, Avermectin, Doramectin, Ivermectin, Selamectin; Makrolide) sind Fermentationsprodukte des Strahlenpilzes Streptomyces avermitilis, die zum Teil nachträglich chemisch modifiziert werden. Milbemycine (gehören auch zu den Makroliden) werden von Streptomyces cyanogriseus produziert. Im Allgemeinen handelt es sich um lipophile, in wässrigem Milieu praktisch unlösliche makrozyklische Laktone.
 

2. Quellen

Avermectine und Milbemycine sind für die Parasitenbekämpfung bei Rind, Schaf, Ziege, Pferd und Schwein zugelassen (sowie Selamectin beim Hund). Bei diesen Species (ausser bei Neugeborenen, gewissen Hunderassen und der Rinderrasse Murray Gray) weisen die Avermectine und Milbemycine eine sehr gute Verträglichkeit für den Wirtsorganismus auf, so dass es erst nach mehr als 10facher Überdosierung zu toxischen Effekten kommt. Als Tierarzneimittel befinden sich aus der Gruppe der Avermectine folgende Wirkstoffe auf dem Markt: Abamectin, Doramectin, Eprinomectin, Ivermectin und Selamectin. Aus der Gruppe der Milbemycine kommen in der Veterinärmedizin Milbemycinoxim, Milbemycin D und Moxidectin zur Anwendung. Ivermectin wird auch in der Humanmedizin eingesetzt, zum Beispiel zur Therapie der Onchocercose (Flussblindheit).
 

3. Kinetik

Die meisten Avermectin- und Milbemycinpräparate werden oral oder subkutan appliziert. Die orale Bioverfügbarkeit von Ivermectin beträgt bei Monogastriern 95%, bei Wiederkäuern nur etwa 30%. Die enterale Aufnahme erfolgt rascher als die Resorption aus subkutanen Depots: bei oraler Applikation treten die maximalen Serumkonzentrationen nach 3-8 Stunden (Monogastrier) oder nach 8-24 Stunden (Wiederkäuer) auf. Die subkutane Verabreichung führt erst nach mehreren Tagen zur maximalen Serumkonzentration. Avermectine und Milbemycine reichern sich in der Leber und aufgrund der Lipophilität im Fettgewebe an. Das Verteilungsvolumen von Ivermectin beträgt 2-5 L/kg Körpergewicht. Die Ausscheidung des kaum metabolisierten Wirkstoffes erfolgt sehr langsam (Halbwertszeiten von 2-7 Tagen) und vorwiegend über die Galle mit dem Kot. Bei Überdosierungen von Ivermectin kann die Eliminationshalbwertszeit über 2 Wochen betragen. Ein Teil des Wirkstoffes (> 5%) gelangt in die Milch, Avermectine dürfen deshalb nicht an laktierenden Kühen verabreicht werden.
Bei einige Hunderassen (zum Beispiel Collies, Longhaired Whippets, Sheepdogs, Australian Shepherds, McNabs, Silken Windhounds, Bobtails) sowie bei Rindern der Rasse "Murray Grey" reichern sich die Avermectine im ZNS an, weil ein aktiver Rücktransportmechanismus nicht funktioniert. Wegen ihrer Lipophilität können Avermectine durch die Membranen jeder intakten Blut-Hirn-Schranke diffundieren. Experimente mit transgenen Mäusen zeigen aber, dass eine P-Glykoproteinpumpe normalerweise dafür sorgt, dass Avermectine aus dem ZNS rückgeführt werden, so dass dort nie ein nennenswerter Wirkspiegel entsteht. Die empfindlichen Collies weisen eine Mutation im mdr1-Gen auf, das für die P-Glykoproteinpumpe kodiert. Schildkröten reagieren ebenfalls sehr empfindlich auf Avermectine.
 

4. Toxisches Prinzip

4.1Die toxische Wirkung
Es werden zwei Effekte beschrieben. 1) Die präsynaptische Freisetzung von γ-Aminobuttersäure (GABA) wird erhöht und gleichzeitig die postsynaptische Rezeptoraffinität für GABA gesteigert. 2) Die Makrolide binden an GABA-gesteuerte Chloridkanäle, was diese vermehrt öffnet und den zelleinwärtsgerichtete Chloridionenstrom verstärkt. Durch Hyperpolarisation der Membranen kommt es zur Lähmung zentralnervöser Funktionen.
 
4.2Mikrofilarien
Als Folge der Avermectin- oder Milbemycintherapie werden Mikrofilarien abgetötet, was zu einer Gewebsirritationen oder allergischen Reaktionen führen kann.
 

5. Toxizität bei Labortieren

Akute orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):

 MausRatteKaninchenHuhn
Abamectin13.510  
Ivermectin25-29.550  
 

6. Umwelttoxikologie

Es wird befürchtet, dass die pharmakologisch aktiven Kotrückstände der Avermectine den Dungabbau durch Kleinlebewesen verhindern, was zur Beeinträchtigung der Qualität von Weideflächen führen könnte.
 

II. Spezielle Toxikologie - Kleintier

1. Toxizität

1.1Minimal toxische Dosis von Ivermectin
-Nicht empfindliche Hunderassen: 2.5 mg/kg Körpergewicht p.o.
-Empfindliche Hunderassen: < 0.1 mg/kg; zu den empfindlichen Rassen zählen Collies, Longhaired Whippets, Sheepdogs, Australian Shepherds, McNabs, Silken Windhounds, Bobtails und andere Hütehunde.
-Katzen: 1.3 mg/kg p.o. oder s.c.
-Jungtiere sind empfindlicher als Adulte. Zum Beispiel liegt die minimal toxische Dosis für Jungkatzen bei 0.3 mg/kg s.c.
 
1.2Minimal toxische Dosis von Moxydectin
-Nicht empfindliche Hunderassen: 1.1 mg/kg p.o.
 
1.3Minimal toxische Dosis von Selamectin
-Collies: 2.5 mg/kg p.o.
 
1.4Ivermectin ist für Hunde und Katzen nicht zugelassen!
Dosierung bei diesen Spezies: 0.2-0.4 mg/kg s.c. Eine Wiederholung ist nach 2-3 Wochen möglich. Bei Collies, Sheepdogs, Shepherds sowie weiteren empfindlichen Hunderassen und deren Kreuzungen darf Ivermectin nur zur Herzwurm-Prophylaxe eingesetzt werden! Dosierung: 0.006 mg/kg.
 

2. Latenz

Die Latenzzeit bis zum Auftreten der Symptome beträgt 4-6 Stunden, nur selten ist diese um bis 24 Stunden verzögert.
 

3. Symptome

3.1Allgemeinzustand, Verhalten
Verhaltensanomalien, Zwangsbewegungen, auch Unruhe, Übererregbarkeit, Bellen, Ataxie, Desorientierung; Hypothermie, Depression, Festliegen, Stupor, Koma in schweren Vergiftungsfällen
  
3.2Nervensystem
Tremor, Hyperästhesie, faszikuläre Muskelzuckungen
  
3.3Oberer Gastrointestinaltrakt
Hypersalivation, Erbrechen
  
3.4Unterer Gastrointestinaltrakt
Keine Symptome
  
3.5Respirationstrakt
Dyspnoe, Bradypnoe
  
3.6Herz, Kreislauf
Bradykardie, Bradyarrhythmie
  
3.7Bewegungsapparat
Keine Symptome
  
3.8Augen, Augenlider
Miosis oder Mydriasis, Blindheit, fehlender Pupillarreflex
  
3.9Harntrakt
Keine Symptome
  
3.10Fell, Haut, Schleimhäute
Kirschrote oder bläuliche Schleimhäute (Zyanose)
  
3.11Blut, Blutbildung
Keine Symptome
  
3.12Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation
Ivermectin gelangt in die Milch und wird so an Jungtiere weitergegeben.
 

4. Sektionsbefunde

Es sind keine spezifische Läsionen festzustellen.
 

5. Weiterführende Diagnostik

Ivermectin lässt sich in Plasma, Leber- und Fettgewebe nachweisen. Bei empfindlichen Hunderassen ist jedoch die Messung der Wirkstoffspiegel im Gehirn aussagekräftig, da sie Aufschluss geben über diejenige Menge, die sich im ZNS angereichert hat.
 

6. Differentialdiagnosen

-Vergiftung mit anderen GABA-Agonisten (z.B. Piperazin).
-Aufnahme von Opioiden, Barbituraten, Drogen, Organophosphaten oder Carbamaten.
 

7. Therapie

7.1Notfallmassnahmen
-Kreislauf stabilisieren: Dehydratation und Elektrolytverlust ausgleichen.
-Atmung: Beatmung mit Sauerstoff.
 
7.2Dekontamination
-Provozierte Emesis, bis zu 2 Stunden nach oraler Aufnahme
-Sofern guter Schluckreflex: wiederholte Verabreichung von Aktivkohle mit einem Laxans, z.B. Carbodote, Trinklösung (24 g Carbo activatus/100 ml) oder Carbovit® (15 g Carbo activatus/100 ml) zur Förderung der Ausscheidung
 
7.3Forcierte Ausscheidung
-20%ige Lipidinfusion: Katze: Bolus von 1.5 ml/kg Körpergewicht i.v., dann 0.25 ml/kg Körpergewicht/Minute während 30 Minuten. Hund: Bolus von 2 ml/kg Körpergewicht i.v., dann 0.5 ml/kg Körpergewicht/Minute während 30 Minuten. Die Therapie kann bei ungenügendem Effekt nach ca. 15 Stunden wiederholt werden. Bei mdr1-defizienten Hunden kann die Wirksamkeit verlangsamt sein, da die intestinale Elimination der Avermectine durch P-Glykoproteine vermittelt wird.
 
7.4Weitere symptomatische Massnahmen
-Regulierung der Körpertemperatur: Bei Hypothermie Tiere in warmer Umgebung behalten.
-Antiemetika: sofern das Erbrechen anhält, Metoclopramid oder Domperidon.
-Bei der Behandlung Avermectin- vergifteter Patienten muss man sich auf eine Behandlungsdauer von bis zu mehreren Wochen einstellen. Daher erfolgt die Behandlung in erster Linie symptomatisch; besondere Aufmerksamkeit ist der Vorbeugung von Dekubitus- und Augenschäden zu schenken.
-Physostigmin kann in sehr schweren Vergiftungsfällen versucht werden, um die Patienten kurzfristig (30-90 Minuten) aufzuwecken und zur Nahrungs- sowie Wasseraufnahme zu ermuntern. Dosierung: 0.06 mg/kg (1 mg bei Collies) langsam i.v. Öfters nachdosieren.
-Künstliche Ernährung per Magensonde.
 

8. Fallbeispiele

8.1Ein Australian Shepherd (10 Monate, 24 kg) wurde mit Ivermectin behandelt (Totaldosis 4 mg).
Symptome 24 Stunden später: Hypersalivation, Hypothermie, Bradykardie, Bradypnoe, Stupor und fehlender Pupillarreflex.
Therapie: Infusionen, Verhinderung von Dekubitusschäden, Augensalbe, Wärme. Am 3. und 4. Tag wird je 0.01 mg/kg Glykopyrrolat s.c. verabreicht. Am 7. Tag wird eine Magensonde gelegt, um die künstliche Ernährung des Hundes zu ermöglichen.
Verlauf: Langsame Besserung, die Magensonde kann am 19. Tag nach Beginn der Behandlung wieder entfernt werden
(Tox Info Suisse).
  
8.2Eine Hündin (Australian Shepherd, 3 Jahre, 23 kg) wurde mit Ivermectin (Dosis: 7.6 mg) behandelt.
Symptome 18 Stunden später: Hypersalivation, Hypothermie, Koma, Atemtätigkeit stark verringert, kein Pupillarreflex.
Therapie: Elektrolytinfusion, künstliche Beatmung, künstliche Ernährung.
Verlauf: Die Beatmung kann am 11. Tag abgebrochen werden, die Hündin beginnt am 15. Tag wieder zu fressen, und wird 3 Wochen nach Beginn der Behandlung entlassen
(Tox Info Suisse).
  
8.3Eine Collie-Hündin (2 Jahre) wurde mit Ivermectin behandelt (Dosis: 10 mg).
Symptome 24 Stunden später: Ataxie, Mydriasis, Depression, Taubheit und Blindheit.
Vier Tage später: Koma, nur der Schluckreflex ist noch vorhanden.
Therapie: Flüssigkeit i.v., Glukose und Proteinlösung oral.
Verlauf: 25 Tage nach der Ivermectin-Injektion erste Reaktion auf Ansprache; 35 Tage danach wieder Futteraufnahme und wiedererlangtes Stehvermögen. Nach 7 Wochen Rückkehr des Sehvermögens
(Easby, 1984).
 

9. Literatur

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