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Nikotin

I. Allgemeine Toxikologie

1. Chemisch-physikalische Eigenschaften

Nikotin (C10H14N2) ist ein basisches Alkaloid mit ähnlicher Struktur wie Acetylcholin. In reiner Form ist Nikotin eine farblose bis schwach gelbliche, leicht nach Fisch riechende, ölige Flüssigkeit. Die Substanz ist gut wasserlöslich.
 

2. Quellen

Nikotin ist ein in dem Nachtschattengewächs Nicotiana tabacum enthaltenes Alkaloid. Die Blätter der Pflanze werden getrocknet und als Tabak in den Handel gebracht; sie enthalten je nach Qualität 1-6% Nikotin (Trockenmasse). Als Quellen für Vergiftungen kommen vor allem Zigaretten oder Zigarren in Frage. Es können aber auch loser Tabak, Schnupftabak, Nikotinpflaster oder Nikotinkaugummis aufgenommen werden und Vergiftungen auslösen. Snus oder Snaff ist eine Art Kautabak. Viele Tabaksorten sind aromatisiert und werden daher gerne von Hunden aufgenommen.
Der Gehalt an Nikotin in verschiedenen Produkten ist wie folgt:
 
 Nikotin
Zigaretten9-30 mg/Stück
Zigaretten-Stummel 5-7 mg/Stück
Zigarren
(je nach Grösse)
100-440 mg/Stück
Loser Tabak9-29 mg/g
Schnupftabak12-30 mg/g
Kautabak2-8 mg/g
Snus1-10 mg/g (normal), 11-20 mg/g (stark), 20-43 mg/g (sehr stark), > 44 mg/g (ultrastark)
Pods mit Nikotin10-20-59 mg/ml
Liquids mit Nikotin3-20 mg/ml
Nikotin-Kagummi
(cave Xylit!)
2-4 mg/Stück
Nikotin-Lutschtabletten1-4 mg/Stück
Nikotin-Mund-Spray1 mg/Sprühstoss (0.07 ml)
Nikotin-Nasen-Spray10 mg/ml
Nikotin-Inhalerpatrone10-15 mg/Patrone
Nikotin-Pflaster8.3-52.5-114 mg/Stück
Insektizide mit Nikotin 
(bzw. mit Neonicotinoiden)
bis zu 40% Nikotinsulfat
 

3. Kinetik

Nikotin wird im sauren Mileu des Magens nur langsam absorbiert, jedoch gut im Dünndarm, inhalativ oder transdermal. Die Plasma-Proteinbindung ist gering. Das Verteilungsvolumen beträgt 2.6 L/kg Körpergewicht. Der Plasmapeak nach der Einnahme von Nikotinpflastern ist nach 60-120 Minuten.
Der Abbau des Stoffes beginnt mittels Oxidationsreaktionen in der Leber. Etwa 10% der aufgenommenen Substanzmenge bleiben unverändert und werden über die Nieren ausgeschieden. Die Halbwertzeit von Nikotin im Blut beträgt 2 Stunden. Bereits 16 Stunden nach oraler Aufnahme ist Nikotin nicht mehr im Organismus vorhanden. Cotidin hat beim Hund eine Halbwertzeit von 1.4 Stunden.
 

4. Toxisches Prinzip

Nikotin stimuliert die Acetylcholin-Rezeptoren im ZNS, im vegetativen Nervensystem und an der neuromuskulären Endplatte. Über Aktivierung der Chemoreceptor-Trigger-Zone führt Nikotin zu Erbrechen.
-Niedrige Dosen können: 1) bei gleichzeitiger Aktivierung parasympathischer und sympathischer Ganglien, bei starker parasympathischer vagaler Stimulation, eine Bradykardie, paroxysmales Vorhofflimmern und einen Herzstillstand auslösen; 2) bei adrenerger und ganglionärer sympathischer Stimulation eine Tachykardie, Bluthochdruck und ventrikuläre Arrhythmien bewirken; 3) bei Stimulation des Atemzentrums im Hirnstamm eine Tachypnoe und Hecheln; 4) eine Mydriasis.
-Eine Ganglienblockade kann zum Tod durch Lähmung der Atemmuskulatur, zu einer zentralen Atemdepression mit Atemstillstand oder zu einem kardiovaskulären Kollaps führen.
 

5. Toxizität bei Labortieren

Akute, orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):

 MausRatteKaninchenHuhn
Nikotin 3.3450  
 

II. Spezielle Toxikologie - Kleintier

1. Toxizität

-Die minimal toxische Dosis (oral) für Hunde oder Katzen beträgt 1-2 mg/kg Körpergewicht Nikotin; die minimal letale Dosis liegt bei 20-100 mg Nikotin.
-Die orale LD50 von Nikotin wird für den Hund mit 9-12 mg/kg Körpergewicht angegeben.
-Gemäss Fallberichten von Hunden werden deutlich höhere Dosen ertragen. Bei einer Studie zeigten nur 2 von 12 Hunden nach oraler Verabreichung von Nikotinpflastern Erbrechen, nach einer Dosis von 1-2 mg/kg Körpergewicht/24 Stunden bzw. 2.8-13.4 mg/kg Körpergewicht und einer Nikotinplasmakonzentration von 67-73 ng/ml.
-Schwere Intoxikationen sind selten, da häufig relativ kurz nach der Einnahme spontanes Erbrechen auftritt.
-Ziervögel sind aufgrund ihrer geringen Grösse und ihres sehr effizienten Stoffwechsels besonders empfindlich. Gemäss Fallberichten verlief bereits die Einnahme 1 Zigarettenstummels letal.
 

2. Latenz

Die Symptome der Nikotinvergiftung treten innerhalb 1 Stunde nach Exposition auf, spontanes Erbrechen bereits nach wenigen Minuten. Die Symptome dauern bei milden Fällen 1-2 Stunden, bei schwere Fälle 18-24 Stunden.
 

3. Symptome

3.1Allgemeinzustand, Verhalten
Agitation, Hyperaktivität, Ataxie, Hyperthermie, später Apathie
  
3.2Nervensystem
Tremor, zentrale Krämpfe (selten), im späteren Stadium Paralyse durch Erschöpfung, Opisthotonus
  
3.3Oberer Gastrointestinaltrakt
Hyperalivation, Erbrechen (i.d.R. kurz nach Einnahme)
  
3.4Unterer Gastrointestinaltrakt
Diarrhoe
  
3.5Respirationstrakt
Tachypnoe, flache Atmung, später Bradypnoe oder Atemstillstand
  
3.6Herz, Kreislauf
Tachykardie, Hypertension, reflektorische Bradykardie, Hypotension, kardiovaskulären Kollaps
  
3.7Bewegungsapparat
Keine Symptome
  
3.8Augen, Augenlider
Miosis oder Mydriasis
  
3.9Harntrakt
Keine Symptome
  
3.10Fell, Haut, Schleimhäute
Keine Symptome
  
3.11Blut, Blutbildung
Keine Symptome
  
3.12Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation
Keine Symptome
 

4. Sektionsbefunde

Die Sektionsbefunde sind unspezifisch.
 

5. Weiterführende Diagnostik

5.1Direkter Nachweis
-Der Nachweis von Nikotin im Harn, Mageninhalt, Erbrochenen oder Plasma ist möglich. Ebenfalls lässt sich der Nachweis des Metaboliten Cotinin in Plasma, Saliva oder Harn durchführen. Für beide Verfahren ist die Hochdruckflüssigchromatographie die Methode der Wahl.
 

6. Differentialdiagnosen

-Primäre Herzerkrankung
-Primäre neurologische Erkrankung
-Schwere Hypoglykämie
-Neuromuskuläre Erkrankung
-Intoxikation mit Methylxanthinen, Amphetaminen, Kokain, Carbamaten/Organophosphaten, Phenylpropanolamin, Pyrethroiden/Pyrethrinen, Strychnin, Tremorgene Mykotoxinen, Xylitol
 

7. Therapie

Die Behandlung ist symptomatisch und unterstützend.
 
7.1Notfallmassnahmen
-Kreislauf stabilisieren; bei Hypotonie: Elektrolyt-Kristalloid 20-30 ml/kg i.v. über 20-30 Minuten, 2- bis 3-mal wiederholen bis sich der Blutdruck verbessert
-Atmung stabilisieren; Sauerstoff und künstliche Beatmung bei Atemnot
-Krämpfe kontrollieren
 
7.2Dekontamination
-Provozierte Emesis nur, wenn die Ingestion des Nikotin innerhalb der letzten 60 Minuten erfolgt ist.
-Sofern guter Schluckreflex: wiederholte Verabreichung von Aktivkohle mit einem Laxans, z.B. Carbodote, Trinklösung (24 g Carbo activatus/100 ml) oder Carbovit® (15 g Carbo activatus/100 ml).
 
7.3Forcierte renale Elimination
-Mittels Diurese
-Ansäuerung des Harns (nicht bei metabolischer Azidose!)
 
7.4Weitere symptomatische Massnahmen
-Aufhebung der Azidose: Laktat- oder Bikarbonatinfusion
-Regelmässige Überwachung von Herzfrequenz, Blutdruck, EKG und ZNS-Status. Atropin, je nach Bedarf bei Bradykardie: 0.02-0.04 mg/kg i.v. oder i.m.; Betablocker bei Bluthochdruck oder Tachykardie: z.B. Propranolol 0.02-0.06 mg/kg, langsam i.v. bis zur Wirkung.
-Eventuell endoskopische Entfernung von Nikotinpflastern mit verlängerter Wirkstofffreisetzung aus dem Magen-Darm-Trakt. Die Pflaster werden z.T. innerhalb von 15-45 Minuten nach Einnahme spontan erbrochen oder werden i.d.R. nach 25-57 Stunden ausgeschieden.
-Antiemetika, sofern das Erbrechen auch nach längerer Zeit anhält: Maropitant 1 mg/kg s.c., alle 24 Stunden; Ondansetron 0.1-0.2 mg/kg i.v., i.m., s.c., alle 6-12 Stunden.
 
7.5Kontraindikation
-Keine Antazida verabreichen, weil ein hoher Magen-pH die Absorption von Nikotin fördert.
 

8. Erwarteter Verlauf und Prognose

-Die Prognose bei Verschlucken niedriger Dosen ist ausgezeichnet.
-Die Prognose bei hohen Dosen ist schlecht, es sei denn, die Behandlung wird frühzeitig eingeleitet und das Tier kann innerhalb der ersten 4 Stunden nach der Ingestion stabilisiert werden.
 

9. Fallbeispiele

9.1Eine Hündin (6 Jahre, 10 kg) hat mehrere Zigarettenstummel gefressen.
Symptome: Zittern, Ataxie, Hypersalivation, Verwirrtheit
Therapie: provozierte Emesis, Aktivkohle mehrmals wiederholt
Verlauf: Besserung
(Tox Info Suisse).
  
9.2Eine Hündin (1 Jahr, 15 kg) hat mehrere kleine Stücke Tabak gefressen.
Symptome: Ataxie, Hyperästhesie, Erbrechen, starkes Zittern
Therapie: Aktivkohle, mehrmals wiederholt, Diazepam
Verlauf: rasche Besserung
(Tox Info Suisse).
  
9.3Ein Toy-Pudel (3 Monate) hat vor 3 Stunden einen Teelöffel Kautabak gefressen und danach einmal erbrochen.
Symptome: Miosis, Salivation, Ataxie, Tremor, Opisthotonus, Hyperthermie (40.2°C), Tachykardie und Tachypnoe
Therapie: Aktivkohle, Ringerlaktat und Natriumbicarbonat i.v., Diazepam
Verlauf: Langsame Erholung innerhalb der folgenden 24 Stunden
(Vig, 1990).
 

10. Literatur

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