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Cyanobakterien

I. Allgemeine Toxikologie

1. Chemisch-physikalische Eigenschaften

Cyanobakterien, auch Blaugrünbakterien oder "Blaualgen" genannt, sind gramnegative, ein- bis vielzellige, fadenförmige Bakterien, die wegen der Überdüngung der Süss- und Brackwasserökosystemen weit verbreitet sind. Cyanobakterien sind wie die Algen zur Photosynthese fähig, besitzen jedoch als Prokaryoten, im Gegensatz zu den Algen, keinen echten Zellkern. Namensgebend ist der blaue Photosynthese-Farbstoff Phycocyanin, der die Bakterien blaugrün färbt. Phycocyanin, das farblich purpurn bis kobaltblau erscheint, kommt auch bei den Rotalgen und Glaucophyta vor. Es sind ca. 2000 Cyanobakterien-Arten beschrieben worden. Sie erscheinen als schwarzblau aussehende Beläge auf feuchtem Gestein oder als rote, blaue und grüne Teppiche auf der Wasseroberfläche von Gewässern sowie bis zu 2 m Tiefe. Cyanobakterienblüten können sehr unterschiedliche Toxine produzieren, die die Leber, die Haut oder das ZNS betreffen. Potenziell sind alle "Algenblüten" giftig, da mit blossem Auge nicht ersichtlich ist, ob und wieviel Toxine die Blüten produzieren. Cyanobakterienblüten treten häufiger auf, wenn die Wassertemperatur steigt und die Nährstoffkonzentration im Wasser erhöht ist.
 

2. Quellen

-Seen, Bäche, Teiche und entferntes Algenmaterial z.B. in Eimern.
-Bakterien der Gattung Anabaena, Planktothrix, Oscillatoria, Microcystis, Aphanizomenon, Jania und Vibrio produzieren die neurotoxischen Cyanotoxine Anatoxin A, sein Homolog Homoanatoxin, Anatoxin-A(S) (S für salivary), Aphantoxin, Tetrodotoxin und Anhydrotetrodotoxin.
-Bakterien der Gattung Microcystis, Nodularia, Anabaena, Planktothrix und Nostoc bilden hepatotoxische Microcystine und Nodularine. Diese zyklischen Oligopeptide sind wegen der ringförmigen Grundstruktur äusserst stabil und können mit herkömmlichen Methoden der Trinkwasseraufbereitung (Sandfiltration, Ausflocken, Chlorierung) nicht vollständig inaktiviert werden. Sie werden erst bei Temperaturen über 200°C oder durch Oxidation mit Ozon (1.5 mg/l Wasser) zerstört und können nur durch Bindung an Aktivkohle vollständig entfernt werden.
-Dermatotoxine wie Lyngbyatoxine, Aplysiatoxine und Debromoaplysiatoxine werden von den Bakterien der Gattung Schizothrix und Planktothrix gebildet.
-Cylindrospermopsine werden von Bakterien der Gattung Cylindrospermopsis, Aphanizomenon, Anabena und Lyngbya produziert und haben bei Rindern zu akuten Todesfällen geführt.
-Beta-N-Methylamino-l-Alanin (BMAA), eine neurotoxische Aminosäure, die mit der vakuolären Myelopathie bei Vögeln in Verbindung gebracht wurde, wird vermutlich von allen Blaualgen-Arten produziert.
-Saxitoxine, auch verantwortlich für die "paralytic shellfish poisoning", einer Lebensmittelvergiftung beim Menschen, werden von einer Reihe von Süsswasser-Blaualgen gebildet, u.a. von Arten der Gattungen Aphanizomenon, Cylindrospermopsis, Anabena, Lyngbya und Planhtothrix-Arten.
 

3. Kinetik

-Über die Toxikokinetik von Anatoxin A, Homoanatoxin und Anatoxin-A(S) liegen keine Daten vor. Anatoxin A wird vermutlich schnell absorbiert, da die klinischen Symptome nach oraler Exposition schnell auftreten. Die Ausscheidung von Anatoxin A erfolgt wahrscheinlich renal und fäkal, da das unveränderte Toxin in Urin und Galle nachgewiesen wurde.
-Microcystine werden im Dünndarm absorbiert und durch organische Anionentransporter rasch in die Hepatozyten verteilt. Microcystine können auch in die Lunge, das Herz und die Kapillaren gelangen. Die Konjugation mit Glutathion und Cystin scheinen die wichtigsten Entgiftungswege zu sein. Microcystine werden bei Nagetieren über die Nieren ausgeschieden, wie Experimente mit radioaktiven Markierungen gezeigt haben.
-Nodularine scheinen sich ähnlich wie das Microcystine zu verhalten. Nach der Absorption im Dünndarm gelangen sie in die Leber und Nieren sowie in die Lymphorgane.
-Lyngbyatoxin A ist leicht lipophil und dringt innerhalb weniger Stunden in die Haut ein. Weitere Daten über die Toxikokinetik von Lyngbya-, Aplysia- und Debromoaplysiatoxinen liegen nicht vor.
-Studien haben gezeigt, dass Cylindrospermopsin Auswirkungen auf verschiedene Organe wie Leber, Nieren, Nebennieren, Darm, Lunge, Thymus und Herz haben.
-Saxitoxine können bei Katzen das ZNS erreichen und werden in Leber, Nieren und Milz verteilt. Die Ausscheidung erfolgt hauptsächlich über den Urin.
 

4. Toxisches Prinzip und Toxizität

-Die Alkaloide Anatoxin A und Homoanatoxin sind potente cholinerge Agonisten mit hoher Selektivität für die nikotinischen Acetylcholinrezeptoren. Sie führen zu einer kontinuierlichen elektrischen Stimulation an der neuromuskulären Verbindungsstelle. Infolge einer anhaltenden Membrandepolarisation kommt es nach initialen fibrillären Zuckungen, Muskeltremor, tonisch-klonischen Muskelkrämpfen und Muskelrigidität zu Muskelrelexation, Paralyse, einschliesslich der Atemmuskutur, Zyanose und Tod durch Atemlähmung (beschrieben bei Rindern, Pferden, Schafen und Hunden).
 

-Anatoxin-A(S), ein natürliches Organophosphat, ist ein irreversibler Acetylcholinesterase-Inhibitor, der zu erhöhten Acetylcholin-Konzentrationen in der Synapse führt. Es zu einer Stimulation des Parasympathikus mit erhöhter Salivation, Lakrimation, Defäkation und Urination sowie zu einer Depolarisation der neuromuskulären Endplatten mit Muskeltremor. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Anatoxin-A(S) kann die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren.
 

-Aphantoxin, Tetrodotoxin, Anhydrotetrodotoxin und Saxitoxine sind spezifische Inhibitoren spannungsabhängiger Na+-Kanäle und führen zu neuromuskulären, respiratorischen und kardiovaskulären Störungen, mit Nervenschwäche, Muskeltremor, kardiovaskulärer Hypotension, Schock und Atemstillstand.
 

-Microcystine und Nodularine greifen die Leber an, indem sie bereits in geringen Konzentrationen die Protein-Phosphatasen 1 und 2A durch Besetzung des aktiven Zentrums hemmen. Diese Phosphatasen katalysieren die Abspaltung kovalent gebundener Phosphatreste von Proteinen. Zusätzlich entsteht eine kovalente Bindung zwischen dem N-Methyl-dehydroalaninrest des Microcystins und einem Cysteinrest des Proteins, wodurch das Toxin doppelt verankert wird. Diese selektive und irreversible Wechselwirkung führt zu einer Hyperphosphatylierung und somit zum Untergang der Intermediärfilamente und Mikrofilamente der Leber. Diese irreversible Wechselwirkung wird auch zum Nachweis des Toxins genutzt. Die daraus resultierende Störung der Zytoskelettkomponenten und die damit verbundene Umlagerung von Aktinfilamenten in den Hepatozyten verursachen schwere Leberschäden. Die Bildung freier Radikale und mitochondriale Veränderungen können ebenfalls zu den pathologischen Veränderungen beitragen. Es kommt zu einer zentrolobulär beginnenden, akuten, hämorrhagischen Lebernekrose und Tod durch Leberversagen. Die perorale Verabreichung von Mycrocystin an Fische löst die Grundstruktur deren Lebern bereits nach 3 Stunden völlig auf, da die Intermediärfilamente und Mikrofilamente im Lebergewebe vollständig kollabieren. Die Smptome sind Erbrechen, Diarrhoe, Schwäche, blasse Schleimhäute, Ikterus und Schock.
Eine chronische, subletale Exposition von Microcystin und Nodularin kann die Bildung von Tumoren fördern.
 

-Lyngbyatoxine, Aplysiatoxine und Debromoaplysiatoxine sind Aktivatoren der Proteinkinase C, die für die Funktionskontrolle anderer Proteine wichtig ist, und verursachen Hautpropleme mit Juckreiz, Erythem, Blasenbildung und Dermatitis.
 

-Cylindrospermopsine sind starke Inhibitoren der Proteinsynthese und können so in einer Vielzahl von Organen wie Leber, Nieren, Herz und Magen-Darm-Trakt zu Schäden führen. Es kommt zu hepatobiliärem Erbrechen, Diarrhoe, Schwäche, blassen Schleimhäuten, Ikterus und Schock.
 

 

5. Toxizität

Die akute LD50 (in µg/kg Körpergewicht) bei der Maus und Ratte ist wie folgt:

 Maus intraperitonealMaus intravenösMaus peroralRatte intraperitoneal
Anatoxin A200< 100> 5000 
Homoanatoxin250   
Anatoxin-A(S)20   
Microcystin LR50 10'900 
Lyngbyatoxin A250  30-50
Saxitoxin10   
 
-Enten, Schweine: Microcystin und Nodularin: nach 1-2 Stunden Krämpfe, Dyspnoe, Leberschäden; Tod infolge eines hämorrhagischen Schocks.
-Mensch: Nach dem Baden in toxinhaltigem Wasser werden nur leichte vorübergehende Symptome beschrieben. Nach dem Essen von Meeresfrüchten mit Anatoxin A oder Saxitoxin kann es zu neurologischen Symptomen kommen.
 

II. Spezielle Toxikologie - Wiederkäuer

1. Toxizität

Bereits die Einnahme geringer Mengen an cyanobakterienhaltigem Wasser können zum Tod führen. Prophylaxe: kein Weidegang bzw. Tränken an Gewässern mit Wasserblüten.
 

2. Latenz

Perakuter oder akuter Verlauf, Tod innert weniger Minuten bis höchstens einige Stunden, evtl. Auffinden der Tiere mit unter dem Leib zusammengeknickten Beinen.
 

3. Symptome

3.1Allgemeinzustand, Verhalten
Ataxie, Unruhe, Brüllen; Somnolenz, Festliegen in Seitenlage
  
3.2Nervensystem
Zähneknirschen, Tremor, Ruderbewegungen in Seitenlage
  
3.3Oberer Gastrointestinaltrakt
Schaum vor dem Maul, Vomitus
  
3.4Unterer Gastrointestinaltrakt
Krämpfe, Kolik; Diarrhoe
  
3.5Respirationstrakt
Keine Symptome
  
3.6Herz, Kreislauf
Schwäche, Schock
  
3.7Bewegungsapparat
Keine Symptome
  
3.8Augen, Augenlider
Keine Symptome
  
3.9Harntrakt
Keine Symptome
  
3.10Fell, Haut, Schleimhäute
Blasse Schleimhäute, Ikterus
  
3.11Blut, Blutbildung
Keine Symptome
  
3.12Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation
Keine Symptome
 

4. Sektionsbefunde

-Makroskopische Befunde: Lebervergrösserung, epikardiale und subserosale gastrointestinale Blutungen; Histopathologische Befunde: Leber- und Nierennekrosen, evtl. Abbau der Lymphorgane.
-Institut für Veterinärpathologie der Universität Zürich: Makroskopische Befunde: Petechien und Ekchymosen in Epi-/Endokard, Subkutis, Lunge und diversen anderen Organen; rötlicher Bauchhöhlenerguss (wenige Deziliter bis mehrere Liter); Gekröse und Gallenblasenwand in der Regel ödematös; Leber meistens vergrössert und vermehrt bluthaltig, mit homogen dunkelbraun bis bläulich verfärbtem Parenchym. Histopathologische Befunde: in allen Fällen hämorrhagische Lebernekrose mit Dissoziation der Parenchymzellen.
 

5. Weiterführende Diagnostik

5.1Direkter Nachweis
-Nachweis von Toxinen in Algen- und Wasserproben.
-Nachweis von Toxinen im Panseninhalt.
 

6. Differentialdiagnosen

-Schimmelpilze (Futtermittelvergiftung)
-Arsenvergiftung
-Bleivergiftung
-Carbamate/Organophosphate
-Chlorierte cyklische Kohlenwasserstoffe
-Dinitrophenole
-Harnstoff-Vergiftung
-Kochsalz-Vergiftung
-Kupfervergiftung
-Nitrat/Nitrit
-Phenole
-Quecksilbervergiftung
-Zinkvergiftung
 

7. Therapie

7.1Notfallmassnahmen
-Atmung stabilisieren
-Kreislauf stabilisieren
-Krämpfe kontrollieren
 
7.2Dekontamination
-Wiederholte Verabreichung von Aktivkohle, bei Verstopfung zusätzlich Glaubersalz; die Wirksamkeit der Aktivkohle ist jedoch fraglich.
-Reinigung von Fell und Haut: gründlich mit sauberem Leitungswasser abspülen.
 
7.3Antidottherapie
-Verabreichung von Atropinsulfat bis zum Verschwinden der muskarinischen Symptome (Salivation, Dyspnoe, Atemgeräusche, Bradykardie, Miosis); Richtdosis: 0.5 mg/kg Atropinsulfat; 1/3 der Dosis soll langsam i.v., der Rest i.m. oder s.c. appliziert werden, nach Bedarf Wiederholung in kleinerer Dosis alle 2 Stunden.
 
7.4Weitere symptomatische Massnahmen
-Aufhebung der Azidose: Natriumbicarbonat- oder Ringerlaktatinfusion
 

8. Fallbeispiele

8.1Innert 22 Jahren 82 plötzliche Todesfälle von Bünder Rindern, untersucht am Institut für Veterinärpathologie der Universität Zürich.
 

9. Literatur

Adelman WJ Jr, Fohlmeister JF, Sasner JJ Jr & Ikawa M (1982) Sodium channels blocked by aphantoxin obtained from the blue-green alga, Aphanizomenon flos-aquae. Toxicon 20(2), 513-516
 
Baker P & Humpage AR (1994) Toxicity associated with commonly occurring cyanobacteria in surface waters of the Murray-Darling Basin, Australia. Aust J Mar. Freshwater Res. 45, 774-787
 
Done SH & Bain M (1993) Hepatic necrosis in sheep associated with ingestion of blue-green algae. Vet Rec. 133, 600
 
Fitzgerald SD & Poppenga RH (1993) Toxicosis due to microcystin in three Holstein heifers. J Vet Diagn Invest. 5, 651-653
 
Galey FD, Beasley VR, Carmichael WW, Kleppe G, Hooser SB & Haschek WM (1987) Blue-green algae (Microcystis aeruginosa) hepatotoxicosis in dairy cows. Am J Vet Res. 48, 1415-1420
 
Hovda LR, Brutlag AG, Poppenga RH & Epstein SE (2024) Blackwell's five-minute veterinary consult clinical companion: small animal toxicology, 3rd edition. Wiley Blackwell, pp. 687-703
 
Kerr LA, McCoy CP & Eaves D (1987) Blue-green algae toxicosis in five dairy cows. J Am Vet Med Assoc. 191, 829-830
 
Naegeli H, Sahin A, Braun U, Hauser B, Mez K, Hanselmann K, Preisig H-R, Bivetti A & Eitel J (1997) Plötzliche Todesfälle von Alprindern im Kanton Graubünden. Schweiz Arch Tierheilkd. 139, 201-209
 
PubChem (2024) pubchem.ncbi.nlm.nih.gov
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