2. Quellen
Die aus veterinärmedizinischer Sicht wichtigste Quelle von Schwefelwasserstoff, Ammoniak, Methan und Kohlendioxid ist die Jauche oder flüssige Gülle. Zur Bildung dieser Gase kommt es bei der bakteriellen Zersetzung in der Jauche. Dabei stellt Schwefelwasserstoff, der von schwefelhaltigen Proteinen stammt, die giftigste Komponente dar. Die Hauptquelle von Ammoniak ist Urin, beziehungsweise Harnstoff. Bakterielle Ureasen hydrolysieren Harnstoff zu Ammoniak und Kohlendioxid. Es ist auf eine optimale Stallhygiene zu achten, um toxische Konzentration von Schwefelwasserstoff und anderen Gasen in der Stallluft zu verhindern. Die grösste Gefährdung resultiert aus Rührvorgängen, weil damit der in der Jauche gelöste Schwefelwasserstoff freigesetzt wird und in der Luft toxische Konzentrationen entstehen können.
3. Kinetik
Schwefelwasserstoff wird über die Lunge und den Magen-Darm-Trakt schnell resorbiert. Die Entgiftung geschieht durch Oxidation zu Sulfaten oder Thiosulfaten. Die Entgiftungskapazität ist allerdings sehr begrenzt. Die Ausscheidung erfolgt über die Nieren und die Lunge. Bei Aufnahme grosser Giftmengen wird Schwefelwasserstoff zum Teil wieder direkt durch die Lunge abgeatmet.
Bedingung für die orale Resorption von Ammoniak ist ein hoher pH-Wert, weil Ammoniak nur in der nicht-ionisierten Form über die Membranen des Magen-Darm-Traktes aufgenommen werden kann. Der Stickstoff im Ammoniak wird nach der Resorption metabolisiert und als Harnstoff mit dem Harn ausgeschieden. Beim Rind wird ein Teil des Harnstoffes über den ruminohepatischen Kreislauf in den Pansen sezerniert. Ammoniak überwindet die Blut-Hirnschranke.
Methan wird über die Lungen adsorbiert. Nach Inhalation wird der Hauptanteil unverändert ausgeatmet, eine kleine Menge wird zu Methanol metabolisiert.
Kohlendioxid durchdringt nach Inhalation rasch und leicht die Alveolarmembranen in der Lunge und gelangt dann ins Blut. Dort wird CO
2 durch die Carboanhydrase der Erythrozyten in Kohlensäure umgewandelt.
4. Toxisches Prinzip
Die Wirkungen von Schwefelwasserstoff lassen sich durch seine chemischen Eigenschaften erklären:
- | Als Säure hat Schwefelwasserstoff eine starke Reizwirkung, womit lokale Irritationen an den Schleimhäuten bis hin zu einem Lungenödem auftreten. |
- | Als Reduktionsmittel inaktiviert Schwefelwasserstoff eisenhaltige Enzyme, wobei die Hemmung von Cytochromoxidasen zur Stillegung der mitochondrialen Atmungskette führt. Auf diese Weise kommt es zu einem Verlust der zellulären Energiereserven, der vor allem die empfindlichen Organe wie Gehirn und Herz trifft. Schliesslich resultiert eine Lähmung des Atemzentrums. |
- | Die Wahrnehmungsgrenze von Schwefelwasserstoff liegt beim Menschen unter 1 ppm. Die geruchliche Warnwirkung sistiert jedoch bei Konzentrationen ab 150 ppm, höhere Konzentrationen lähmen die Geruchsrezeptoren und können nicht mehr wahrgenommen werden. Typisch sind deshalb Reihenvergiftungen: Ein Bewusstloser soll aus einem H2S-enthaltenden Raum geholt werden, der zur Rettung Nachsteigende erliegt ebenfalls und ein Dritter unternimmt den nächsten Versuch. |
Ammoniak wirkt auf feuchten Körperoberflächen ätzend, insbesondere feuchte Haut, Schleimhäute, Lungen und Augen sind gefährdet. Die Ingestion verursacht blutige Emesis mit heftigen Schmerzen. Auf der molekularen Ebene hemmt Ammoniak den Zitronensäurezyklus, ein zentraler Umsatzplatz im Stoffwechsel der Kohlenhydrate, Proteine und Lipide. Die anaerobe Glycolyse wird begünstigt und es entsteht vermehrt Laktat, womit die betroffenen Tiere eine Azidose zeigen. Durch Hemmung der Zellatmung entsteht eine Zellschädigung. Die neurotoxische Wirkung wir auf eine exzessive Aktivierung von Glutamat-Rezeptoren im ZNS zurückgeführt.
Methan verdrängt den Sauerstoff in der Luft und bewirkt damit einen Sauerstoffmangel. Es ist besonders gefährlich, da es von Säugetieren nicht wahrgenommen wird.
Wird Kohlendioxid über einen längeren Zeitraum eingeatmet, bildet sich eine im Extremfall tödliche respiratorische Azidose. Der Organismus versucht eine CO
2-Vergiftung mit Hyperpnoe und Tachykardie zu kompensieren. Schliesslich kommt es zu Bewusstlosigleit, Krämpfen, Koma und Atemstillstand.
5. Toxizität bei Labortieren
- | Schwefelwasserstoff ist bei allen Säugetieren ab einer Konzentration in der Atemluft von 10 ppm (15 mg/m3) toxisch. Die maximal zulässige Konzentration in der Stalluft beträgt 5 ppm. Bei Konzentrationen um 500 ppm oder höher tritt in kurzer Zeit Bewusstseinsverlust und Tod ein. Die LC50, das heisst die Konzentration bei der 50% der Tiere nach einer Inhalationsdauer von einer Stunde sterben, beträgt für die Maus 673 ppm. |
- | Die maximal zulässige Konzentration von Ammoniak ist <10 ppm (0.001% oder 7.6 mg/m3). Ein Ammoniakgehalt der Luft von 0.5% (5000 ppm) wirkt nach 30-60 Minuten tödlich. |
- | Kohlendioxid ist erst ab Konzentrationen von 10% (100'000 ppm oder 196 g/m3) in der Einatmungsluft lebensgefährlich. Die maximal zulässige Konzentration ist 0.15 Volumen-% (1500 ppm). Bei 3-4 Volumen-% (30'000-40'000 ppm) erfolgt die Erregung des Atemzentrums (Hyperventilation), bei 8-10 Volumen-% eine respiratorische Azidose, Krämpfe, Bewusstlosigkeit und 20 Volumen-% sind tödlich. |
II. Spezielle Toxikologie - Wiederkäuer
1. Toxizität
Die Gefahr einer chronischen Toxizität beginnt ab 20 ppm Schwefelwasserstoff in der Atemluft. Die akut letale Dosis von H
2S beträgt 500-1`000 ppm. Bei Konzentrationen über 1`000 ppm kommt es zu plötzlichen Todesfällen.
2. Latenz
Die Latenz beträgt je nach Expositionsmenge wenige Minuten (akute Vergiftung) bis mehrere Wochen (chronische Vergiftung).
3. Symptome
3.1 | Allgemeinzustand, Verhalten |
| Schwefelwasserstoff: Ataxie, Apathie, Depression, Festliegen; nach chronischer Exposition: Anorexie, Abmagerung, rauhes Fell; Ammoniak: Uebererregbarkeit, ängstlich-starrer Blick, erhöhte Körpertemperatur, Taumeln, Zusammenbrechen, Festliegen. Unbehandelte Tiere sterben nach 1-3 Stunden. Schafe sind meistens apathisch |
|
3.2 | Nervensystem |
| Hyperästhesie, Tremor, Krämpfe, Opisthotonus |
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3.3 | Oberer Gastrointestinaltrakt |
| Salivation, Maulschleimhautläsionen |
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3.4 | Unterer Gastrointestinaltrakt |
| Kolik, Tympanie |
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3.5 | Respirationstrakt |
| Tachypnoe, Dyspnoe, Husten, schaumiger Nasenausfluss, Asphyxie |
|
3.6 | Herz, Kreislauf |
| Tachykardie |
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3.7 | Bewegungsapparat |
| Keine Symptome |
|
3.8 | Augen, Augenlider |
| Keratokonjunktivitis |
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3.9 | Harntrakt |
| Keine Symptome |
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3.10 | Fell, Haut, Schleimhäute |
| Bläuliche Schleimhäute (Zyanose), Schweissausbruch |
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3.11 | Blut, Blutbildung |
| Keine Symptome |
|
3.12 | Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation |
| Keine Symptome |
4. Sektionsbefund
Geruch nach faulen Eiern, Blut auffallend dunkel, grün verfärbt und schlecht geronnen (postmortale Bildung von Sulfhämoglobin), ausgeprägtes Lungenödem, Hyperämie und katarrhalische Entzündung der oberen Atemwege, multiple Blutungen an den Schleimhäuten und Parenchymen, bei oraler Aufnahme Gastroenteritis
5. Weiterführende Diagnostik
Nachweis von Schwefelwasserstoff in der Stalluft (Prüfröhrchen) oder im Tierkörper (Bleiacetatpapier). Der Nachweis im Tierkörper ist allerdings nur bei frischem Untersuchungsmaterial aussagekräftig, da Schwefelwasserstoff postmortal durch bakterielle Zersetzung entstehen kann.
6. Differentialdiagnosen
Cyanidvergiftung, Milzbrand, andere Erkrankungen mit Reizerscheinungen des Respirationstraktes.
7. Therapie
- | Atmung: Entweder Stall gut lüften (Vorsicht: Intoxikationsgefahr für das Personal) oder die Tiere an die frische Luft bringen. |
- | Gegen Krämpfe: Xylazin oder Diazepam |
7.2 | Weitere symptomatische Massnahmen |
- | Behandlung des Lungenödems: Glukokortikoide, antibiotische Versorgung zur Verhinderung einer bakteriellen Infektion. |
8. Fallbeispiel
Ältere gut dokumentierte Berichte über Schwefelwasserstoffvergiftungen bei Wiederkäuern wurden durch Humphreys (1988) zusammengefasst.
9. Literatur
Carson TL (1999) Toxic Gases. In: Current Veterinary Therapy Food Animal Practice (Howard JL ed) Saunders Company, Philadelphia, pp 247-249
Casteel SW & Turk JR (1996) Toxic causes of sudden death in ruminants. In: Large Animal Internal Medicine (Smith BP ed) Mosby-Year Book St.Louis, pp 293-297
Gangolli S (1999) The dictionary of substances and their effects, Second Edition. Royal Society of Chemistry, Cambridge
Hapke HJ (1975) Schwefel und Schwefelverbindungen. In: Toxikologie für Veterinärmediziner (Hapke HJ ed) Ferdinand Enke Verlag Stuttgart, pp 171-173
Humphreys DJ (1988) Veterinary Toxicology, Baillere Tindall, London, pp 82-83
Kühnert M (1991) Schwefel und Schwefelverbindungen. In: Veterinärmedizinische Toxikologie (Kühnert M ed) Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, pp 264-265
Radostits OM, Blood DC, Gay CC & Hinchcliff KW (1999) Sulfur Poisoning. In: Veterinay Medicine (Radostits OM, Blood DC, Gay CC & Hinchcliff KW eds) Saunders Company London, p 1608