2. Quellen
- | Fluorvergiftungen infolge Kontaminationen von Boden, Wasser und Futterpflanzen durch Industrieemissionen aus der Aluminium-, Ziegel-, Glas-, Keramik- und Düngemittelproduktion haben grosse Bedeutung erlangt. |
- | Naturphosphatdünger enthalten bis 4% Fluor. |
- | Weitere Vergiftungsmöglichkeiten bestehen durch den gelegentlichen Einsatz von Fluoriden als Rodentizide (zum Beispiel Natriumfluoracetat), Insektizide (zum Beispiel Natriumfluorid oder Fluorsilikate) oder Holzschutzmittel (Natriumfluorid oder Kaliumhydrogenfluorid). |
- | Organische Fluorverbindungen, die als Herbizide (zum Beispiel Fluorglycofen), Fungizide (Flutriafol) oder Insektizide (Flufenoxuron) dienen, führen selten zu Vergiftungserscheinungen. |
- | Im Bauwesen werden Fluorverbindungen (zum Beispiel Kieselflusssäure) als Betonhärtungsmittel verwendet. Somit kann ein fortwährender Kontakt mit behandelten Zementböden zu chronischen Fluorvergiftungen führen. |
- | Die Flusssäure wird auch zum Ätzen von Glas, zum Polieren von Metallen, in Rostentfernern, in Reinigungsmitteln für Kraftfahrzeuge (z.B. Radreinigern), in Aluminiumaufhellern, in industriellen Metallreinigern, in Entfettungsmitteln und bei der Benzinherstellung, Ölbohrungen und Aluminiumherstellung verwendet. |
- | Ätzende Fluoridprodukte können in Ofenreinigern, Toilettenreinigern und anderen Reinigungslösungen enthalten sein. |
- | Die in einigen Ländern durchgeführte Fluorierung des Trinkwassers (1 mg/L) senkt die Karieshäufigkeit, wobei möglicherweise eine erhöhte Häufigkeit von Knochenbrüchen bei älteren Menschen in Kauf genommen wird. |
3. Kinetik
- | Natriumfluorid und andere lösliche Fluoridsalze werden im Magen-Darmtrakt, vorrangig im Magen, rasch resorbiert. Möglich ist auch eine Aufnahme durch Inhalation. Die Fluoride erreichen 30 Minuten nach der Einnahme ihren höchsten Plasmaspiegel. Das Verteilungsvolumen beträgt 0.5-0.7 L/kg und die Eliminationshalbwertszeit 2-9 Stunden. Die Fluoride werden nicht metabolisiert und vorwiegend über die Nieren (50%) ausgeschieden, des weiteren über die Faeces (5-10%), den Schweiss, Speichel und die Milch. |
- | Die Flusssäure ist stark lipophil und wird über jeden Expositionsweg leicht absorbiert. Die systemische Absorption ist aufgrund des sauren Milieus im Magen sehr gut. |
- | Die Aufnahme von Fluoriden ist bei älteren Tieren geringer als bei jungen Tieren. Kohlenhydrate und Fett können die Fluoridaufnahme verringern oder verzögern. Die Aufnahme und Verteilung erfolgen in Abhängigkeit vom pH-Wert. |
- | Bevor sie sich die Fluoride im Knochen anreichern, werden sie im Weich- und Knochengewebe verteilt, was zu einem raschen Rückgang der Fluorid-Plasmakonzentration führt. Fluoride sind nicht proteingebunden und zirkuliert als freie Ionen (F-) bis sie mehrere Stunden nach der Einnahme in den Knochen und Zähnen gespeichert werden, da F- im Hydroxylapatit gegen OH- ausgetauscht wird, was zu Veränderungen der Mineralisierung und der Knochenstruktur führt. Die Speicherung in das Knochengewebe findet zeitlebens statt, die Einlagerung in die Zähne nur während des Wachstums. Die Anreicherung von Fluorid in Knochengewebe ist ein reversibler Prozess. Wird die Speicherkapazitäten der Fluorid-Ionen im Knochen- und Zahngewebe überschritten, erfolgt die Elimination. |
- | Die renale Ausscheidung von Fluoriden ist bei saurem Urin niedriger und bei alkalischem Urin höher. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt bei Menschen mit normaler Nierenfunktion 2-9 Stunden, kann aber bei Nierenerkrankungen verlängert werden. Bei Kleintieren ist die Halbwertszeit nicht bekannt. |
4. Toxisches Prinzip
Die Toxizität der Fluorverbindungen entfaltet sich über verschieden Mechanismen:
- | Die Flusssäure, Kieselfluorwasserstoff (Hexafluoridokieselsäure) und die wasserlöslichen Fluoride führen zu lokalen Verätzungen der Haut und Schleimhäute. |
- | Fluoridsalze reagieren nach der Einnahme mit der sauren Umgebung des Magens und bilden Flusssäure, die stark ätzend ist. Fluoridsalze verursachen oxidativen Stress, indem sie freie Sauerstoffradikale erzeugen, die eine Lipidperoxidation verursachen, die zu einer Schädigung der Zellmembran führt, wobei Leber und Nieren am stärksten betroffen sind. |
- | Die Flusssäure dringt - im Gegensatz zu den meisten Säuren, die sofortige Schmerzen und oberflächliche Verätzungen ohne systemische Azidose verursachen - tief in das Gewebe ein und dissoziiert in Wasserstoff- und Fluoridionen. Die freien Fluorid-Ionen binden sich an Calcium und, in geringerem Masse, an Magnesium und bilden unlösliche Komplexe, die sich im Gewebe ablagern und zu Schmerzen, Nekrosen und Knochenentkalkung führen. Schwere Hypocalcämie und Hypomagnesiämie (weniger häufig), mit daraus resultierendem Kaliumausfluss und Hyperkaliämie, können Herzmuskelreizungen und Herzrhythmusstörungen verursachen. Fluorid-Ionen binden und hemmen auch mehrere Enzymsysteme, einschliesslich der Acetylcholinesterase, Adenylcyclase und Na-K-ATPase, was zu einer übermässigen cholinergen Stimulation und Ausstrom von Kalium aus der Zelle führt. Eine Atemmuskelparalyse durch Hypocalcämie und Herzstillstand durch Hyperkaliämie sind die häufigsten Todesursachen. Jedes Flusssäure-haltige Produkt sollte als potenziell toxisch betrachtet werden. |
- | Fluor ist in der Lage, verschiedene Enzyme zu beeinträchtigen, wodurch beispielsweise die Glykolyse gehemmt wird. Auf diese Weise kommt es zu hyperglykämischen Zuständen mit entsprechenden Schädigungen des Herzmuskels, der Leber- und Nierenparenchyme und der Neuronen im ZNS. |
- | Bei der chronischen Vergiftung wird Fluor in Knochen und Zähnen eingelagert, wodurch das Knochengewebe zum weiteren Wachstum stimuliert wird. Die dabei entstehenden Knochenverdickungen und -auflagerungen führen zur Versteifung der Gelenke, die Wirbelsäure kann vollständig ankylosieren. Das aktive Knochenmark wird zunehmend eingeengt. Dabei verliert der Knochen seine elastische Qualität und es treten vermehrt Knochenbrüche auf. Die Zähne werden ebenfalls brüchig, verfärben sich und weisen eine übertriebene Abnützung auf. Dieses als Fluorose bekannte Krankheitsbild wurde vor allem bei beruflich exponierten Menschen und bei Rindern beobachtet. |
- | Fluoracetat und Fluoracetatamid werden nach Resorption in den toxischen Metaboliten Fluorcitrat umgewandelt. Diese Verbindung blockiert den Intermediärstoffwechsel durch Hemmung des Krebszyklus. |
5. Toxizität bei Labortieren
Akute orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):
| Maus | Ratte | Kaninchen | Huhn |
Ammoniumfluorsilikat | 64 | 45 | | |
Ammoniumperfluoroctanoat | | 430 | | |
Calciumfluorid (Flussspat, CaF2) | | > 5'000 | | |
Dichlordifluormethan (Freon 12) | | > 4'000 | | |
Flamprop-isopropyl | > 2'500 | > 3'000 | | > 2'500 |
Flamprop-methyl | | > 5'000 | | |
Fluazifop-butyl | 1'490-1'770 | 3'328 | 621 | |
Fluchloralin | | 5'580 | | |
Flufenoxuron | | > 3'000 | | |
Fluoracetamid (compound 1081) | | 5.6 | | |
Fluoraminobiphenyl | | 300 | | |
Fluoranilin | | 420 | | |
Fluorbenzol | | 4'400 | | |
Fluorchloridon | | 3'650-4'000 | | |
Fluordifen | | 9'000 | | |
Fluoressigsäure (FCH2COOH) | | 5 | | |
Fluoroglycofen-ethyl | | 1'500 | | |
Fluoromid | > 15'000 | > 15'000 | | |
Fluorphosphorsäure (H2FPO3) | | 240-300 | | |
Fluotrimazol | | > 5'000 | | |
Flupropanat | 9'600 | 11'900 | | |
Fluridon | > 10'000 | > 10'000 | | |
Fluroxypyr | | 2'405 | | |
Flusilazol | | 674-1'100 | | |
Flutriafol | | 1'140-1'480 | | |
Fluxofenim | | 670 | | |
Hexafluorpropanol | 600 | | | |
Kaliumfluorid (KF) | | 250 | | |
Kaliumfluorsilikat (K2SiF6) | 70 | 160 | | |
Kryolith (AlF6Na3) | | 200 | | |
Natriumfluoracetat (Compound 1080) | 0.5 | 0.1 | | |
Natriumfluorid (NaF) | 57 | 52-200 | 100-500 | |
Natriumsilicofluorid (Na2SiF6) | | 125 | 138-150 | |
Schwefeldifluorid (SO2F2) | | 100 | | |
6. Umwelttoxikologie
Die als Kühlmittel, Treibgase oder in der Schaumstoffherstellung verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zeichnen sich durch eine geringe Toxizität aus, haben aber wegen der Zerstörung der Ozonschicht in der Stratosphäre vorwiegend umwelttoxikologisches Interesse erlangt. Nicht-chlorierte Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) schädigen die Ozonschicht nicht.
II. Spezielle Toxikologie - Schwein
1. Toxizität
Ab einem Fluorgehalt von 70 ppm im Futter besteht bei allen Altersklassen die Gefahr einer akuten Fluorintoxikation.
Natriumfluorid wurde in einer Konzentraion von 500 ppm als Askarizid eingesetzt und besitzt eine sehr geringe "safety margin".
Eine chronische Fluorintoxikation führt zu leichtgradigen Zahnveränderungen und Lahmheiten unterschiedlichen Grades, die nur schwer von anderen Lahmheitsursachen abzugrenzen sind.
2. Latenz
Keine Angaben
3. Symptome
3.1 | Allgemeinzustand, Verhalten |
| Ungestört bis Apathie, Kollaps und Tod, normaler Appetit bis vollständige Anorexie und Gewichtsverlust |
|
3.2 | Nervensystem |
| Keine Symptome |
|
3.3 | Oberer Gastrointestinaltrakt |
| Erbrechen, Zahnschäden und -verfärbungen (Form, Farbe, Konsistenz), Kaubeschwerden |
|
3.4 | Unterer Gastrointestinaltrakt |
| Durchfall |
|
3.5 | Respirationstrakt |
| Keine Symptome |
|
3.6 | Herz, Kreislauf |
| Keine Symptome |
|
3.7 | Bewegungsapparat |
| Lahmheiten als Folge der Knochenveränderungen, spontane Knochenbrüche als Folge von Osteoporose |
|
3.8 | Augen, Augenlider |
| Keine Symptome |
|
3.9 | Harntrakt |
| Keine Symptome |
|
3.10 | Haut, Schleimhäute |
| Keine Symptome |
|
3.11 | Blut, Blutbildung |
| Keine Symptome |
|
3.12 | Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation |
| Keine Symptome |
4. Sektionsbefunde
- | Verschiedene Zahnveränderungen wie braune Verfärbungen und Unregelmässigkeit der Oberflächen, Brüchigkeit, übermässiger und unregelmässiger Abrieb. Knochenveränderungen wie laterale Exostosen der langen Röhrenknochen, Verdickung und Vergrösserung der Mandibula, Kieferdeformationen und Osteoporose. |
- | Die chronische Exposition führt bei jungen Schweinen zu Nierenzellapoptose, atrophischen Glomeruli, Dilatation der glomerulären Kapsel und der Tubuli, schwerem Tubulusleck sowie Glomerulus- und Tubulusnekrose. |
5. Weiterführende Untersuchungen
Bestimmung des Fluorgehaltes im Urin. Normalwerte liegen zwischen 5 und 15 ppm. Bestimmung des Fluorgehaltes im Knochen. Normalwerte liegen zwischen 3000 und 4000 ppm
6. Differentialdiagnosen
Viral, bakteriell, diätetisch; Magengeschwüre, Haarballen, Fremdkörper; Vitaminmangel (Riboflavin, Thiamin), andere Intoxikationen (Aflatoxine, Amitraz, anorganische Arsenverbindungen, Avermectine, Blei, Cadmium, Cholecalciferol, Cyanamid, Dipyridinium-Herbizide, Eisenverbindungen, Ethylenglykol, Fusarientoxine, Ionophore, Kochsalz/Trinkwassermangel, Kupfer, Metaldehyd, Nitrat/Nitrit, Organophosphate und Carbamate, Phenoxycarbonsäure-Herbizide, Pyrethroide, Quecksilber, Schwefelwasserstoff, Selen, Stachybotryotoxin, Stickstoffdioxid).
6.2 | Zahnschäden und -verfärbungen anderer Genese |
|
6.3 | Durchfall |
Diätetisch, viral, bakteriell, parasitär; andere Intoxikationen (Aflatoxine, anorganische Arsenverbindungen, Blei, Cadmium, chlorierte Kohlenwasserstoffe, Cholecacliferol, Cyanamid, Eisenverbindungen, Fusarientoxine, Ionophore, Kochsalz/Trinkwassermangel, Metaldehyd, Mutterkornalkaloide, Ochratoxine, Organophosphate und Carbamate, Phenoxycarbonsäure-Herbizide, Pyrethroide, Quecksilber, Schwefelwasserstoff, Zearalenon, Zink).
Panaritium; Beinschwächesyndrom/Osteochondrose; Trauma; Arthritiden (zum Beispiel Gelenksrotlauf, Glässer'sche Krankheit, Polyarthritis der Saugferkel); andere Intoxikationen (Cholecalciferol, Cumarinderivate, Eisenverbindungen, Selen, Zink).
7. Therapie
Bei klinisch erkrankten Tieren macht eine Therapie wegen der Irreversibilität der Symptome wenig Sinn. Als vorbeugende Massnahmen sollte eine Reduktion des Fluor-Gehaltes im Futter (falls dieses die Ursache ist) angestrebt und der Calcium- und Aluminium-Gehalt des Futters angehoben werden.
8. Fallbeispiel
Genügend dokumentierte Fallberichte liegen uns nicht vor.
9. Literaturverzeichnis
Carson TL (1999) Toxic minerals, chemicals, plants and gases. In: Diseases of swine 8th Edition (BE Straw, S D'Allaire, WL Mengeling & DJ Taylor ed), Iowa State University Press, Ames, p 784
Lorgue G, Lechenet J & Rivière A (1996) Clinical Veterinary Toxicology. Blackwell Science Oxford, pp 106-107
Radostits OM, Gay CC, Blood DC & Hinchcliff KW (2000) Veterinary Medicine. WB Saunders London, pp 1594-1598