2. Quellen
- | Mehrere Pflanzen in Nordamerika, Irland, Israel, Australien, China oder Südafrika enthalten besonders hohe Mengen an organisch gebundenem Selen, so dass es in diesen Gebieten zu endemischen Vergiftungen kommen kann. Zu den Pflanzen, die bis 1`500 ppm Selen aufweisen können, gehören folgende Gattungen Acacia (zum Beispiel A. cana), Artemisia (zum Beispiel A. canescens), Aster, Astragalus, Atriplex, Castilleja, Comandra (zum Beispiel C. pallida), Descurainnia (zum Beispiel D. pinnata), Grindelia, Machaeranthera (zum Beispiel M. ramosa), Morinda (zum Beispiel M. reticulata), Neptunia (zum Beispiel N. amplexicaulis), Oonopsis, Penstemon, Sideranthus, Stanleya (zum Beispiel S. pinnata) und Xylorrhiza. Diese Pflanzen bevorzugen zum Teil selenreiche Böden, wobei in industriellen Gebieten der Selengehalt durch Emissionen erhöht sein kann. |
- | Eine weitere Quelle von Selenvergiftungen sind Mischfehler bei der Herstellung selenhaltiger Zusatzfuttermittel oder Überdosierung von Injektionslösungen zur Prophylaxe des Selenmangels (Weissmuskelkrankheit, Maulbeerherzkrankheit). |
- | Shampoos, die Selensulfid enthalten, stellen eine mögliche Vergiftungsquelle für Hunde oder Katzen dar. |
3. Kinetik
Elementares Selen ist im Prinzip ungiftig, da es nicht in ausreichender Menge resorbiert wird. Organische Selenverbindungen werden besser resorbiert als die anorganischen Verbindungen. Neben der Aufnahme über das Futter ist die Resorption auch über den Respirationstrakt oder die Haut möglich. Insbesondere kann metallisches Selen in Form von Staub oder Dampf über die Lungen aufgenommen werden. Die selenige Säure wird sowohl oral wie durch Inhalation resorbiert. Im Plasma wird Selen an Albumin und Globulin gebunden transportiert. Gespeichert wird Selen überwiegend als Selencystein und Selenmethionin in Leber, Niere und Pankreas. Selen wird zum grössten Teil im Urin ausgeschieden. Bei Wiederkäuern können die Selenverbindungen im Pansen reduziert werden, so können grosse Anteile einer Dosis als elementares Selen mit dem Kot ausgeschieden werden. Bei hohem Selengehalt des Futters kann auch die Milch beträchtliche Selenrückstände enthalten. über die Lunge wird Selen ebenfalls ausgeschieden, teilweise in Form der knoblauchartig riechenden Tri- oder Dimethylselenids. Die Halbwertszeit von Selen im Organismus liegt bei 1-2 Wochen.
4. Toxisches Prinzip
- | Inaktivierung von Enzymen nach Austausch von Schwefel gegen Selen. Durch Störung der Keratinbildung kommt es zu Haarausfall und Huf- oder Klauenmissbildungen. |
- | Bei akuten Vergiftungen kommt es zu Erosionen der Schleimhaut des Gastrointestinal- oder Respirationstraktes. Selenwasserstoff ist ein Schleimhautgift, das zu "Selenschnupfen" und einem toxischen Lungenödem führt. |
- | Bei intravenöser Injektion zu hoher Selendosen kann es zu einem vaskulären Schock kommen. |
5. Toxizität bei Labortieren
Akute, orale LD50 (in mg/kg Körpergewicht):
| Maus | Ratte | Kaninchen | Huhn |
Natriumselenat | | 1.6 | 2.3 | |
Natriumselenit | 7 | 7 | | |
Selen | | 6'700 | | |
Selenharnstoff | | 50 | | |
Selendisulfid | | 138 | | |
Selensulfid | 370 | 38 | | |
II. Spezielle Toxikologie - Wiederkäuer
1. Toxizität
- | Der Selengehalt des Futters sollte unter 1 ppm (Trockensubstanz) liegen, da bei Schafen Futter mit 2 ppm bereits toxisch sein kann, Rinder sind etwas weniger empfindlich. Zu subakuten bis chronischen Vergiftungen kommt es, wenn der Selengehalt des Futters 5-15 ppm oder die tägliche Aufnahme 0.25 mg Selen/kg Körpergewicht beträgt, Werte von 15-25 ppm führen zu akuten Vergiftungen. |
- | Die empfohlene therapeutische Dosierung von Natriumselenid ist 0.2 mg/kg Körpergewicht s.c. oder i.m. |
- | Der optimale sichere Selengehalt im Futter beträgt zwischen 0.25-0.85 ppm. |
2. Latenz
Die Latenzzeit ist dosisabhängig: Je nach aufgenommener Menge kommt es zu akuter, subakuter ("blind staggers") oder chronischer Vergiftung ("alkali disease"). Chronische Vergiftungen treten nach Expositionsperioden von Wochen bis Monaten in Erscheinung.
3. Symptome
3.1 | Allgemeinzustand, Verhalten |
| Akute Vergiftung: Anorexie, erhöhte Temperatur, Unruhe, Ataxie, Festliegen und Tod durch Versagen der Atmung; subakute oder chronische Vergiftung: Abmagerung, Apathie, Lecksucht, steifer Gang; die Tiere sondern sich von der Herde ab, wandern herum oder stossen gegen Hindernisse |
|
3.2 | Nervensystem |
| Paresen, Paralyse |
|
3.3 | Oberer Gastrointestinaltrakt |
| Hypersalivation, Zungenlähmung, Zähneknirschen |
|
3.4 | Unterer Gastrointestinaltrakt |
| Durchfall, Kolik |
|
3.5 | Respirationstrakt |
| Tachypnoe, Dyspnoe, blutiger Schaum vor der Nase, Knoblauchgeruch der Atemluft, Tod durch Atemlähmung |
|
3.6 | Herz, Kreislauf |
| Tachykardie, schwacher Puls |
|
3.7 | Bewegungsapparat |
| Steife Gelenke, Lahmheit, Verharren auf den Karpalgelenken infolge der schmerzenden Klauen, an den Klauen Bildung von ringförmigen Spalten entlang oder parallel zum Kronsaum: Klauen wachsen zu unförmigen, rissig-zerklüfteten Schnabelschuhen heran, selten kommt es zum Ausschuhen |
|
3.8 | Augen, Augenlider |
| Sehstörungen |
|
3.9 | Harntrakt |
| Keine Symptome |
|
3.10 | Fell, Haut, Schleimhäute |
| Rauhes Fell, Verlust der Schwanzhaare beim Rind, bei der Ziege Alopezie |
|
3.11 | Blut, Blutbildung |
| Anämie |
|
3.12 | Fruchtbarkeit, Jungtiere, Laktation |
| Mitunter werden Jungtiere von chronisch exponierten Muttertieren mit abnormen Klauen oder Augenmissbildungen geboren, oder sie nehmen mit der Muttermilch soviel Selen auf, dass sie postnatal vergiftet werden; Aborte |
4. Sektionsbefunde
Gastroenteritis, Hydrothorax, Lungenödem und -kongestion, Aszites, Kongestionen der Leber und des Gastrointestinaltraktes, Leberzirrhose, Hydroperikard, Myopathie (ähnlich wie Weissmuskelkrankheit bei Selenmangel), Atrophie und Dilatation des Herzmuskels, Petechien am Epi- und Endokard, Erosionen der Gelenkknorpel (besonders an Tibia), Deformationen der Klauen.
5. Weiterführende Diagnostik
- | Direkter Nachweis: Selen kann in Plasma oder Serum (Normalwerte bis 0.3 ppm), in den Klauen oder Haaren (Normalwerte bis 5 ppm), sowie in Leber oder Niere (Normalwerte bis 2 ppm) nachgewiesen werden. |
6. Differentialdiagnosen
- | Aktue Vergiftung: Anaphylaxie, Septikämie, Arsenvergiftung. |
- | Chronische Vergiftung: Klauenrehe, Osteomalazie, Mutterkornvergiftung. Die Symptome der akuten wie auch der chronischen Form der Selenvergiftung können den Symptomen eines Selenmangels sehr ähnlich sein. |
7. Therapie
- | Notfalltherapie (intravenöser Flüssigkeitsersatz) und Dekontamination (Aktivkohle) bei akuter Vergiftung. |
- | Nach chronischer Exposition: Entzug der Selenquelle und Diät mit hohem Proteingehalt und Leinöl. Ein hoher Proteinanteil im Futter kann bis zu einem gewissen Grade die Symptome der Selenvergiftung mindern. |
8. Fallbeispiele
8.1 | Eine Schafherde (70 adulte Tiere und 39 Lämmer) wurde prophylaktisch mit Vitamin E und Selen behandelt. Die erwachsenen Schafe erhielten je 250 mg Vitamin E und 25 mg Selen (etwa 0.56 mg/kg Körpergewicht) subkutan, während den Lämmern die geringere Dosis von 100 mg Vitamin E und 10 mg Selen (etwa 0.87 mg/kg) verabreicht wurde. Es konnten nicht alle Schafe behandelt werden, weil das Präparat ausgegangen war. Ungefähr 12 Stunden nach der Behandlung bemerkte der Besitzer, dass sich einige Schafe seltsam verhielten. Sie zeigten Schwäche, Niedergeschlagenheit und erhöhte Atemfrequenz sowie Schaum am Maul. Ein Lamm wurde in eine Klinik eingewiesen und dort genauer untersucht. Es handelte sich dabei um ein 3 Monate altes Tier. Es bewegte sich nur widerstrebend und lag meistens fest. Es zeigte eine verstärkte Atmung und Schaum um die Nasenlöcher und wies Tachykardie auf. Die Körpertemperatur betrug 41.1° C. Das Lamm wurde in einen kühlen, abgedunkelten Raum gebracht und mit Epinephrin behandelt, aber es starb kurze Zeit später. Auf der Farm verendeten innerhalb von 24 Stunden 11 Auen und 21 Lämmer. In den folgenden 5 Tagen starben noch weitere 3 Lämmer und 5 Auen. Zehn Tage nach dem Vorfall verendete das letzte betroffene Schaf. Die überlebenden 14 Auen und 15 Lämmer waren alle nicht behandelt worden (Smith et al., 1999). |
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8.2 | Eine Selenvergiftung wurde bei neugeborenen, prophylaktisch behandelten Kälbern beobachtet. Kälber, die eine Selendosis von 2 mg/kg Körpergewicht i.m. erhielten wurden anorektisch, matt und lagen 6 Stunden nach der Injektion fest. Sie zeigten zunehmende Dyspnoe und verendeten schliesslich innerhalb von 12 Stunden (McDonald et al., 1981). |
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8.3 | Eine Herde von Kühen bekam Futter mit einem Selengehalt von 30.2-64.4 ppm. Die betroffenen Tiere zeigten Risse in den Klauen sowie Haarausfall am Schwanz und trockene, rissige Haut am Schwanz, an den Beinen und den Ohren. Der Serumgehalt von Selen bei den betroffenen Tieren betrug ungefähr 1.40 ppm (Mitra et al., 1996). |
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8.4 | Nach der Verfütterung von Pflanzen, die 45 ppm Selen enthielten, was einer Selenmenge von 0.33 mg/kg und Tag entspricht, gingen Schafe nach 5-6 Tagen ein. Die gleiche Menge in Form des Natriumselenits wurde mehr als 90 Tage lang vertragen (Hapke, 1975). |
9. Literatur
Blood DC & Radostitis OM (1989) Selenium poisoning. In: Veterinary Medicine, 7th edition (Blood DC & Radostitis OM ed.) Baillière Tindall, pp 1254-1256
Blodgett DJ & Bevill RF (1987) Pharmacokinetics of selenium administered parenterally at toxic doses in sheep. Am J Vet Res 48, 530-534
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Deore MD, Srivastava AK & Sharma SK (2002) Blood Selenium Levels During Different Stages of Selenosis in Buffaloes and its Evaluation as a Diagnostic Tool. Vet Human Toxicol 44, 260
Gabbedy BJ (1970) Toxicity in sheep associated with the prophylactic use of selenium. Aust Vet J 46, 223-226
Gabbedy BJ & Dickson J (1969) Acute selenium poisoning in lambs. Aust Vet J 45, 470-472
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Gerloff BJ (1992) Effect of selenium supplementation on dairy cattle. J Anim Sci 70, 3934-3940
Hapke H-J (1975) Toxikologie für Veterinärmediziner, Enke Verlag, Stuttgart, p 269
Khalda EA, Sei A, Idrill OF & Wahbi AA (1990) Experimental selenium poisoning in nubian goats. Vet Hum Toxicol 32, 249-251
Krieger RI, Tomson K, Warner DW & Whitener SL (1986) Unstable injectable selenium treatments that may be toxic to cattle. Vet Hum Toxicol 28, 541-542
Mathis A, Horber H & Jucker H (1982) Selenstoffwechsel beim Wiederkäuer. Schweiz Arch Tierhlk 124, 591-601
McDonald DW, Christian RG, Straus KI & Roff J (1981) Acute selenium toxicity in neonatal calves. Can Vet J 22, 279-281
Mitra M, Ghosh A, Basak DN, Sarkar S, Basak DK & Bowmik MK (1996) Spontaneous selenosis in cattle: clinicopathological studies. Ind J Vet Path 20, 40-42
O`Toole D, Raisbeck MF, Case JC & Whitson TD (1996) Selenium-induced ,blind staggers" and related myths. A commentary on the extent of historical livestock losses attributed to selenosis on Western US rangelands. Vet Pathol 33, 104-116
O'Toole D & Raisbeck MF (1995) Pathology of experimentally induced chronic selenosis (alkaline disease) in yearling cattle. J Vet Diagn Invest 7, 364-373
Radostits OM, Blood DC, Gay CC & Hinchcliff KW (1999) Selenium poisoning. In: Veterinay Medicine (Radostits OM, Blood DC, Gay CC & Hinchcliff KW, eds) Saunders Company, pp 1589-1591
Raisbeck MF, O`Toole D & Belden EL (1999) Selenium toxicosis. In: Current Veterinary Therapy Food Animal Practice (Howard JL & Smith RA, eds) Saunders Company, Philadelphia, pp 252-254
Smith BI, Donovan GA & Rae DO (1999) Selenium toxicosis in a flock of Katahdin hair sheep. Can Vet J 40, 192-194
Yaeger MJ, Neiger RD, Holler L, Fraser TL, Hurley DJ & Palmer IS (1998) The effect of subclinical selenium toxicosis on pregnant beef cattle. J Vet Diagn Invest 10, 268-273